Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Terror

Terror

Titel: Terror Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
Vom Netzwerk:
abtrennen oder dem Netz von alten Narben, welches seinen Leib überzog wie die Tätowirungen eines Seemannes, noch weitere Male hinzufügen.
    Nichts davon geschah. Ehe Stanley oder ich, der ich mich nur schützend über den Todten gebeugt hatte, es zu hindern vermochten, ließ sie das Scalpell mit der Gewandtheit eines Chirurgus nach vorne schnellen – offenbar war sie von Kindheit an im Gebrauche scharfer Messer erfahren – und durchschnitt das Lederband, an welchem das Amulett des Alten befestigt war.
    Sie fing den flachen, weißen, blutbesudelten Stein samt seiner Schnur auf und verbarg ihn irgendwo in den weiten Falten ihres Anoraks. Dann legte sie das Scalpell wieder an seinen Platz zurück.
    Stanley und ich starrten einander an. Schließlich weckte der Schiffsarzt der Erebus den jungen Matrosen, welcher als Lazarettgast fungirte und sandte ihn hinaus, um den wachhabenden Officier und somit auch den Capitain vom Ableben des alten Eskimos zu unterrichten.
     
     
    Den 4. Junius 1847, Fortsetzung
    Gegen halb zwei Uhr früh – drey Glasen – wurde der Eskimomann bestattet, das heißt sein in Segeltuch eingeschlagener Leichnam wurde durch das enge Feuerloch nahe dem Schiff hinab ins Wasser gestoßen. Dieses durch fünfzehn Fuß starkes Eis führende Loch ist das einzige, welches die Männer in diesem kalten Sommer haben offen halten können – trotz ihrer großen Angst vor einer Feuersbrunst an Bord, von welcher weiter oben schon die Rede war. Sir John hatte angeordnet, solchermaaßen mit dem Leichnam zu verfahren. Während Stanley und ich mit Bootsstaken bemüht waren, die Leiche durch die enge Öffnung zu drücken, hörten wir wenige Hundert Faden östlich von uns das Hacken und gelegentliche
Schimpfen der zwanzig Männer, welche die ganze Nacht arbeiten mußten, um für die morgige – oder vielmehr heutige – Bestattung Leutnant Gores ein geziemenderes Loch in das Eis zu schlagen.
    Mitten in der Nacht war es immer noch hell genug, um einen Bibelvers zu lesen – wenn jemand eine Bibel mit aufs Eis genommen hätte, was nicht geschehen war –, und das schwache Licht half uns zwey Ärzten und den beiden Seeleuten, welche zu unserer Unterstützung abcommandirt waren, den todten Eskimo tiefer in das blaue Eis zu schieben, drehen und stoßen, so daß er endlich unten im schwarzen Wasser landete.
    Die Eskimofrau hatte schweigend zugesehen und ließ auch jetzt keine Gefühlsregung erkennen. Aus Westnordwest kam eine frische Brise, welche ihr schwarzes Haar aus der fleckigen Anorakhaube löste und es ihr wie eine Krause aus Rabenfedern ins Gesicht wehte.
    Der Wundarzt Stanley, die zwey schnaufenden, leise fluchenden Matrosen, die Eingeborene und ich waren die einzigen, welche an dieser Bestattung Theil nahmen. Erst kurz vor dem Ende unserer Plackerey erschienen Capitain Crozier und ein hochaufgeschossener, dürrer Leutnant im Schneegestöber. Kurz darauf glitt der Leichnam des Wilden die letzten fünf Fuß hinab und verschwand in den schwarzen Fluten zweyeinhalb Faden unter dem Eise.
    »Sir John hat Befehl ertheilt, daß die Frau auf keinen Fall an Bord der Erebus nächtigen darf«, bemerkte Capitain Crozier leise. »Wir sind gekommen, um sie zur Terror zu bringen.« Dann wandte er sich an den großgewachsenen Leutnant, dessen Name mir nun wieder einfiel: Irving. »John, ich übergebe die Frau Ihrer Obhut. Finden Sie einen Platz für sie, wo die Männer sie nicht dauernd vor Augen haben – vielleicht irgendwo in der Vorpiek –, und sorgen Sie dafür, daß ihr nichts zustößt.«
    »Aye aye, Sir.«
    »Entschuldigen Sie, Capitain Crozier«, versetzte ich. »Warum lassen Sie sie nicht einfach zu ihrem Volke zurückkehren?«
    Crozier lächelte. »Im Grunde bin ich ganz Ihrer Meinung, Dr. Goodsir. Aber zum einen gibt es im Umkreis von dreyhundert Meilen keine bekannten Eskimosiedlungen – nicht einmal das kleinste Dorf. Eskimos sind
ein Volk von Nomaden. Was mag diesen alten Mann und diese junge Frau dazu bewogen haben, so weit hinaus aufs nördliche Packeis zu ziehen in einem Sommer, da es hier keine Wale, keine Walrosse, keine Robben, keine Rennthiere und auch sonst keine Geschöpfe gibt außer Weiße Bären?«
    Ich wußte nichts zu erwidern, zumal mir nicht recht einleuchtete, was seine Worte mit meiner Frage zu thun hatten.
    »Und zum anderen«, fuhr Crozier fort, »kann unter Umständen unser Leben davon abhängen, daß wir diese Eskimos finden und mit ihnen Freundschaft schließen. Sollen wir sie

Weitere Kostenlose Bücher