Terror
kein Bär war?«
Nicht zum ersten Male bemerkte ich, daß Sir John mich nie mit dem mir zustehenden Titel eines Doctors anredete. Er gebrauchte das »Mr.«, wie er es bei jedem ungebildeten Deck- oder Unterofficier that. Ich habe zwey Jahre benöthigt, um zu der Erkenntniß zu gelangen, daß der alternde Expeditionscommandant, vor dem ich stets größte Hochachtung empfand, seinerseits einem bloßen Schiffsarzte nicht die geringste Wertschätzung entgegenbringt.
»Ich weiß es nicht, Sir John.« Mich drängte es, zu meinem Patienten zurückzueilen.
»Wie ich höre, interessiren Sie sich für diese Weißen Bären, Mr. Goodsir«, fuhr Sir John fort. »Weshalb ist das so?«
»Ich wurde zum Anatom ausgebildet, Sir John. Und vor dem Aufbruch unserer Expedition hegte ich den Traum, Naturforscher zu werden.«
»Und damit ist es jetzt vorbei?« fragte Capitain Crozier in seinem weichen irischen Tonfall.
Ich zuckte die Achseln. »Ich mußte feststellen, daß Forschungen in freier Wildbahn nicht meine Stärke sind, Sir.«
»Aber Sie haben doch einige Weiße Bären secirt, die wir hier und vor der Beechey-Insel erlegt haben.« Sir John blickte mich nicht an. »Sie haben ihr Skelett und ihren Muskelapparat studirt. Und sie auf dem Eise beobachtet, so wie wir alle.«
»Ja, Sir John.«
»Stimmen Leutnant Gores Wunden also Ihrer Meinung nach überein mit den Verletzungen, welche solch ein Thier einem Menschen zufügen könnte?«
Ich zögerte keine Secunde. Ich hatte Graham Gores Leichnam untersucht, ehe wir ihn für die alptraumhafte Reise zurück übers Eis auf den Schlitten luden. »Gewiß, Sir John. Der Polarbär der hiesigen Regionen ist nach unserer Kenntniß das größte Raubthier auf Erden. Er kann um ein Drittel mehr wiegen und drey Fuß höher aufragen als der Graubär, der größte und wildeste Bär Nordamericas. Er ist fürwahr ein mächtiges Geschöpf und ohne weiteres im Stande, einem Manne den Brustkasten zu zerquetschen und das Rückgrat zu brechen, wie es dem armen Leutnant Gore widerfahren ist. Ohnedies ist der Polarbär das einzige Raubthier, welches sich für gewöhnlich Menschen zur Beute erwählt und ihnen nachstellt.«
Commander Fitzjames räusperte sich. »Ich kann Ihnen verrathen, Dr. Goodsir, daß ich in Indien einmal einen sehr gefährlichen Tiger sah, welcher, nach den Aussagen der Dorfbewohner, bereits zwölf Menschen gefressen hatte.«
Ich nickte und wurde im gleichen Augenblicke gewahr, wie schrecklich müde ich war. Die Erschöpfung wirkte auf mich wie ein berauschendes Getränk. »Sir … Commander … meine Herren. Sie haben alle mehr von der Welt gesehen als ich. Indeß möchte ich aufgrund meiner sehr umfassenden Studien zu diesem Thema zu bedenken geben, daß alle anderen Landraubthiere – seien es Wölfe, Löwen, Tiger oder Bären – Menschen zwar tödten können, wenn sie gereizt werden. Und einige von ihnen, wie etwa Ihr Tiger, Commander Fitzjames, können in der Noth gar zu Menschenfressern werden, wenn eine Krankheit oder eine Verletzung sie daran hindert, ihre natürliche Beute zu erjagen. Aber nur der Polarbär – Ursus maritimus – stellt dem Menschen regelmäßig aus eigenem Antriebe nach.«
Crozier nickte. »Woher haben Sie dieses Wissen, Dr. Goodsir? Aus Ihren Büchern?«
»Zu einem großen Theil, Sir. Doch ich habe unsere Ruhezeit in der Disko-Bucht auch für Gespräche mit den Einheimischen genutzt, um mehr über das Verhalten dieser Bären zu erfahren. Außerdem habe ich mich auch bei Capitain Martin von der Enterprise und Capitain Dannert von der Prince of Wales erkundigt, als wir in der Baffin-Bucht in ihrer Nähe ankerten. Diese beiden Herren haben meine Fragen nach dem Polarbären ausführlich beantwortet und mir auch Gespräche mit ihren Seeleuten ermöglicht – unter anderem mit zwey americanischen Walfängern, von denen jeder mehr als ein Dutzend Jahre im Eise verbracht hat. Diese wußten mir viel über Weiße Bären zu berichten, die den Eskimos der Region nachstellten und sogar Männer von den Schiffen verschleppten, als sie im Eise eingeschlossen waren. Ein alter Mann, er hieß Connors, wenn ich mich recht entsinne, erzählte mir, daß auf seinem Schiff im Jahre ’28 zwey Köche Opfer von Bären wurden. Einer von ihnen wurde sogar aus dem Unterdeck geraubt, wo er am Herd arbeitete, während die Männer schliefen.«
Capitain Crozier lächelte. »Vielleicht sollten wir nicht jeder Geschichte Glauben schenken, die ein alter Seemann zum Besten
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