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Terrorist

Terrorist

Titel: Terrorist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Updike
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beipflichtendes Gemurmel heraus, zumal nach dem zweiten Gesang, in dem es um die Freude geht, Jesus auf seinem Weg zu begleiten; nun nämlich steigt der Prediger auf den hohen minbar hinauf, den geschnitzte Engel zieren. Indem er sich mit dem Mund der Reichweite des Verstärkersystems bald nähert, bald entzieht, sodass seine Stimme an- und abschwillt wie die eines Mannes im höchsten Mast eines vom Sturm gebeutelten Schiffs, berichtet er in zunehmend wogenden Tönen von Moses, der das erwählte Volk aus der Sklaverei hinausgeführt hat und dem doch selbst der Zugang zum Gelobten Land versagt blieb.
    «Warum geschah das?», fragt er. «Moses hatte dem Herm als Sprecher gedient, in Ägypten wie auch anderswo. Als Sprecher: Unser Präsident unten in Washington hat einen Sprecher, unsere Firmenchefs in ihren stolzen Büros in Manhattan und Houston, auch sie haben ihre Sprecher, in einigen Fällen ihre Sprecherinnen, was wir natürlich nicht unterschlagen wollen, nicht wahr, meine Brüder? Beim Barmherzigen, und wie sich unsere geliebten Schwestern aufs Sprechen verstehen! Gott hat Eva nicht die Kraft unserer Arme und Schultern geschenkt, doch ihrer Zunge hat er doppelte Macht verliehen. Ich höre da jemanden lachen, aber das ist kein Scherz, sondern schlicht Evolution, und darin wollen sie unsere unschuldigen Kinder ja an allen öffentlichen Schulen unterrichten. Aber im Ernst: Niemand traut sich mehr, für sich selbst zu sprechen. Zu riskant. Zu viele Anwälte, die einen beobachten und notieren, was man sagt. Also, wenn ich eine Sprecherin hätte, hier und jetzt, dann säße ich zu Hause, sähe mir im Fernsehen eine Talkshow mit Mr. William Moyers oder Mr. Theodore Koppel an und würde mir noch eine zweite oder dritte Scheibe von dem köstlichen siruptriefenden French Toast zu Gemüte führen, den mir meine liebe Tilly morgens manchmal auftischt, wenn sie sich ein neues Kleid gekauft hat, ein neues Kleid oder eine schicke Alligatortasche, und deswegen ganz zarte Gewissensbisse verspürt.«
    Während die Heiterkeit, die diese lange Abschweifung ausgelöst hat, noch anhält, fährt der Prediger fort: «Dann würde ich meine Stimme schonen. Dann müsste ich mich nicht laut vor euer aller Ohren fragen, warum Gott Moses daran gehindert hat, das Gelobte Land zu betreten. Wenn ich nur einen Sprecher oder eine Sprecherin hätte.»
    Auf Ahmed wirkt es, als würde der Prediger auf einmal, inmitten dieser erwartungsvollen, aufgeheizten Menge dunkelhäutiger Heiden vor sich hin grübeln und hätte vergessen, warum er hier ist – warum sie alle hier sind, während aus Autos, die draußen auf der Straße vorübersausen, höhnisch laute Radiomusik zu vernehmen ist. Doch der Mann erwacht – er reißt die Augen hinter den Gläsern auf, schlägt mit der flachen Hand auf die dicke Goldschnittbibel, die auf dem Pult des minibar ruht , und sagt: «Der Grund ist der: Gott nennt ihn im Buch Deuteronomium, Kapitel zweiunddreißig, Vers einundfünfzig: ‹Denn ihr seid mir untreu gewesen inmitten der Israeliten beim Haderwasser von Kadesch in der Wüste Zin und habt mich inmitten der Israeliten nicht als den Heiligen geehrt.›»
    Der Prediger in seinem weitärmeligen blauen Gewand, aus dem am Hals ein Hemdkragen und eine rote Krawatte hervorlugen, lässt mit vor Staunen geweiteten Augen den Blick über die Gemeinde schweifen und konzentriert sich, so kommt es Ahmed vor, besonders auf ihn, vielleicht, weil sein Gesicht hier neu ist. «Was bedeutet das?», fragt der Prediger. «‹Mir untreu gewesen›? ‹Nicht als den Heiligen geehrt›? Was hatten die armen, leidgeprüften Israeliten an der Oase Kadesch in der Wüste Zin nur falsch gemacht? Wer es weiß, hebe die Hand.» Niemand tut es, auf diese Frage war man nicht gefasst, und der Prediger stürmt weiter, schlägt in seiner großen Bibel einen Stoß goldgeränderter Seiten um und gelangt zu einer Stelle, die er markiert hat. «Alles ist hierin enthalten, meine Freunde. Alles, was ihr wissen müsst, findet sich prompt hier. Das Große Buch berichtet, dass von dem Volk, das Moses weit aus Ägypten hinausführte, Kundschafter ausgesandt wurden, die in die Wüste Negev und nach Norden zum Jordan zogen, und als sie zurückkamen, erzählten sie, das Land, das sie erkundet hatten, sei, wie es im dreizehnten Kapitel des Buches Numeri heißt, ‹wirklich ein Land, in dem Milch und Honig fließen›, doch ‹das Volk, das im Land wohnt, ist stark, und die Städte sind befestigt und sehr groß›,

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