Terry - Geschichten aus dem Leichenhaus
kriechend und habe mir auf Treppen das Gesicht blutig geschlagen. und mich durch die dunklen Wasser des Styx gequält. Der verdammte Zug hat einfach angehalten, als wäre nichts gewesen und ist genauso einfach weitergefahren. In meiner völligen Verwirrung studierte ich die Abfahrtzeiten, wollte mich wohl ablenken. Als ich in den Dielenspiegel blicke, schreie ich über das, was ich sehe. Jetzt gehe ich ins Schlafzimmer. Schlafen, schlafen, schlafen. Knipse das Licht an und schaue ängstlich in Richtung Fenster. Vielleicht ist das Nachbarhaus wieder näher gerückt? Da sehe ich das, was sich neben dem Fensterrahmen befindet. Und dann schreie ich noch einmal, aber ich bin sicher, ich werde nie wieder mehr in meinem Leben schreien, denn ich gehe zurück zum Styx, dessen anthrazitgraue Wellen mich trösten werden, mich für immer aufnehmen werden, dorthin, wo es weder Phantasie noch Realität gibt. Wie gut, dass ich die Abfahrtzeiten der Züge gelesen habe. In dreißig Minuten kommt der erste Morgenzug; der Alte hat es mir ja vorgemacht: ich muss mich nur ruhig nach hinten fallen lassen, dann ist alles vorbei.
Der alte Mann sah mich an, und irgendwann bin ich dran. In genau dreißig Minuten.
Good bye, Nora, du wirst mich nie mehr wieder trösten, denn du hängst nackt an deinem Porzellanhals in dem braunen Schal des Vorhangs, und ein Messer steckt zwischen deiner herrlichen Brüsten.
Aber deine Augen sind so leer, so leer.
Doch bald werde ich für immer bei dir sein! Der alte Mann sieht mich an, und ...
Ende
Wahnhalla
Die Stadt, durch die ich ging, glich dem verfaulenden Körper eines riesigen Tieres, jenseits unserer Zeitrechnung. Ich wusste, dass dieser Ort tot war, obgleich ich ihn erst seit wenigen Minuten betreten hatte. Man sagte, Samara sei ein gemiedener Ort, und als Reporter machte ich mich auf den Weg, um Näheres zu erfahren. Die Sonne schien am mittäglichen Himmel, aber es war kalt, und ich zog fröstelnd die Schultern hoch. Trotz der gleißenden Helligkeit kam mir die Stadt düster vor, und die Schatten wirkten greifbar wie alte Stoffbahnen aus Tüll. Ich wollte sie berühren, doch sie lösten sich sofort in Sand und Asche auf. Die Stadt erinnerte mich an ein Foto irgendeiner russischen Metropole kurz vor einem Bombenalarm. Riesige Plätze im Sonnenlicht, lange, elegante Boulevards und Häuser, genau wie hier. Kleine, saubere Bauten, höchstens drei bis vier Stockwerke hoch, aber vollkommen verlassen. Mir schien, als ahnte die Stadt den bevorstehenden Tod, und die Häuser kuschelten sich ängstlich eng aneinander und flüsterten sich Beruhigendes zu. Bei manchen Bauten konnte ich förmlich fühlen, wie sich furchtsam Poren schlossen. Genau wie hier. Ich fragte mich, ob hier überhaupt jemals Menschen gewohnt hatten, doch es musste so gewesen sein, denn die Straßen waren sauber, die Autos in gutem Zustand, und über allem ragte die große Bahnhofsuhr, die seltsamerweise drei Zeiger hatte. Ein klägliches, androgynes Lachen verfing sich in irgendeiner Häuserecke. Obwohl der Ort verlassen schien, wackelte in einem Vorgarten ein Schaukelstuhl hin und her. Auf dem Tisch daneben lag eine qualmende Zigarre, und auf dem Rasen zappelte ein Gartenschlauch wie eine tödlich getroffene Schlange, aus dem das Wasser herausschoss und den Rasen sprengte. Einen seltsamen Augenblick lang dachte ich, es sei meine Melancholie, die alles hatte ersterben lassen. Doch nein. Die Schwarze Galle kroch aus jeder Tür und vermischte sich mit den Schatten aus zerbröselndem Tüll. Es war ein Tag wie ranziges Öl, und die Trauer strich wie ein alter, müder Hund durch die Vorgärten. Dabei hatte alles ganz harmlos angefangen. Das Pharmaunternehmen SP-PsychoPompos wollte ein neues Präparat gegen Angstzustände und Depressionen auf den Markt bringen. Aber bevor es endgültig auf den Markt kam (der Staat musste es natürlich testen und genehmigen), gelangte die blaue Pille LightFire über dunkle Wege auf den Markt. Ich muss zugeben, dass ich auch ein paar davon genommen hatte, als eine Art Selbstexperiment sozusagen. Endlich konnte ich zwanzig Stunden arbeiten und die kurze Nacht von acht Stunden in vollen Zügen genießen! Aber da stimmt schon rein rechnerisch etwas nicht. Ich habe wohl zu viel geschluckt. Auch die anderen Konsumenten waren begeistert. Die Leistungsfähigkeit steigerte sich ebenso wie die sexuelle Lust. Dunkle Tage waren genau so out wie Plattenspieler und Walkmen. Oder genau so
Weitere Kostenlose Bücher