Terry - Geschichten aus dem Leichenhaus
kalten Kaffee daneben. Aber das machen die Meisten. Draußen wischen Regenbahnen an der schmutzigen Scheibe vorbei, David Bowie existiert nur noch zur Hälfte. Die Schlote sind im dunklen Himmel verschwunden, wie alles beinahe verschwunden ist. Eine S-Bahn kreischt irre durch den Tunnel. Die Türe öffnet sich, und herein kommt ein alter Mann. Noch älter als ich, aber keiner sieht ihn an. Er trägt einen dunklen Fischgratanzug aus Adenauers Zeiten, der ihm um die dürren Glieder flattert. Und er setzt sich knarrend genau mir gegenüber an den Tisch, und ich muss in sein gelbliches Gesicht sehen. Seine Nase ist kurz und spitz, die wenigen, dunklen Haare hängen regennass über seiner hohen, zerfurchten Stirn. Und die Augen: Ich glaube, er ist blind, obwohl er ziemlich zügig durchs Lokal ging. Die Schultern zieht er dabei unentwegt hoch, seine Arme scheinen in der Luft zu paddeln. Er kommt mir wie ein riesiger Wasservogel vor, und ich hasse ihn! Der ganze Blutverlust, meine Schmerzen - umsonst! Eine erlösende Leere ist in meinem Kopf. Meine zitternden Finger stoßen um ein Haar die Vase um, und ich beobachte ihn weiter. Die Augäpfel treten gelblich und fett aus den Höhlen hervor, keine Iris zu sehen, und er zündet sich eine Zigarre an und beobachtet mich ununterbrochen. Ich meide seinen Nicht-Blick und konzentriere mich auf mein Essen. Der Schnaps verschafft mir kurzfristig Erleichterung. Warum kümmert sich Nora nicht um ihn? Keiner sieht ihn an. Dieser sinnlose Paddler. Mir schmeckt das Essen nicht, ich würge, als ich wieder diesem Blick aus toten Augen begegne. Augen, die nun gierig auf Nora sehen und sie ausziehen. Jetzt greift er sich zwischen die Beine, raucht dabei wie ein Schlot, und schleimiger Speichel tropft von seinen dünnen Lippen.
Nora hat es sich am Tresen bequem gemacht und raucht ein Zigarillo. Dabei glättet sie sich mit der Hand den Rock, der am Po emporgerutscht ist. Der Alte grinst. Der Schweinebraten kommt mir alt und verdorben vor, ich würge. Mein fauliges Gegenüber greift sich in die ausgebeulte Anzugtasche und holt ein langes Messer hervor, mit dem er sich die langen Fingernägel säubert. Ich könnte mich erbrechen, winke Nora zu, die mir kopfschüttelnd den halbleeren Teller abnimmt. »Bitte bringen Sie mir noch einen Jubi«, sage ich zu ihr, erschrocken, meine eigene Stimme zum ersten Mal seit langem zu hören. Sie hört sich tief und krächzend an. Nora nickt und sagt: »´türlich, Dirk!«
Dirk heiße ich? Ach, ja. Aber woher kennt sie meinen Namen?
Oldie grinst wieder und hebt die ausgedünnten Augenbrauen fortwährend in die Höhe, und ebenso fortwährend rollt er mit den leeren Augäpfeln, starrt und grinst. Er hat meine Gedanken völlig gefangengenommen. Eigentlich müsste ich ihm dankbar dafür sein. Aber nichts da. Mir geht sein vogelähnlicher, schlurfender Gang nicht aus dem Kopf und seine prätentiöse Beobachtung meiner Person: »Der alte Mann sieht mich an, und irgendwann ist er dran«, fällt mir dabei ein. Er wird mich in meinen Träumen verfolgen, das ockerkranke Nachbarhaus wird wieder näher rücken und mich ersticken, und wieder werde ich mit dem alten Vorhang kämpfen, der wie ein Gespenst neben meinem Bett hängt, und der Alte wird dabei lachen. Mein Ich wird zwar ausgelöscht sein, aber dafür wird einer kommen, der größer ist als ich. Ich trinke zuviel, und Nora sieht mich fast strafend an. Der Regen hat zugenommen und fällt wie Asche aufs speckige Pflaster. Passanten huschen wie Gespenster über die Straße. Es ist fast Mitternacht, und mich schaudert in der Kälte. Die Gäste haben wankend das Bistro verlassen, Nora putzt die letzten Gläser mit einem schmierigen Lappen ab, der mir vom Klo her irgendwie bekannt vorkommt. Nur noch ER sitzt da und starrt abwechselnd auf Nora und mich. Sie löscht das fahle Diebes-licht über der Theke und sagt: »Schluss für heute. Morgen ist auch noch ´n Tag. «
Ich zahle müde und verwirrt und schaue ungläubig von ihm zu ihr. Doch sie kümmert sich immer noch nicht um den Alten, der wie ein Karpfen an seiner Zigarre saugt. Nora zieht sich ihren Trench an, macht die Tür zu, und ich schreie fast, als ich den Mann bereits auf der Straßenecke neben verrosteten Müllcontainern stehend sehe; irgendwie ist er unbemerkt an uns vorbeigekommen. Er pafft seine Zigarre, die wohl nie ausgeht, und säubert sich die Fingernägel mit dem Messer. Wie er Nora ansieht, will mir nicht gefallen. Ich schreie sie durch den Regen
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