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Terry - Geschichten aus dem Leichenhaus

Terry - Geschichten aus dem Leichenhaus

Titel: Terry - Geschichten aus dem Leichenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Peters
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Eidechse nicht an. Ich überlege mir voller Panik, ob sie nicht tot ist. So bleibt mir als einziges Gefühl nur meine Hämmerorgie mit den Fäusten gegen die Wand, und ich weiß, dass ich noch lebe. Nora sitzt wieder neben mir und spielt mit ihren kleinen Brüsten, und sie lacht schallend. Meine Hände wollen wieder nach ihr greifen, aber sie erwischen nur den braunen Vorhang neben dem Schlafzimmerfenster. Wenn wenigstens mein restlicher Körper so kraftlos wäre. Und meine Phantasie. Doch er liegt unausgelastet im Bett und findet in 420 Minuten kaum Schlaf.
    Tick. Tick, tick. Ich wälze mich hin und her und denke an morgen. Der braune Vorhang verwandelt sich in ein lappiges Gespenst, das langsam auf mich zukommt. Die Stores sind die Arme, die nach mir greifen. Ich unterdrücke einen irren Schrei und wanke zum Fenster, um Luft hereineinzulassen. Doch das Fenster lässt sich nicht öffnen. Der Klotz aus Ocker ist nun vollends so nahegekommen, dass kein Blatt Papier mehr zwischen die Wände passt. Ich umklammere meinen Hals, weil ich ersticke, meine Augen kullern aus dem kalkweißen Kopf.
    Da greift ein klebriger Gespensterarm meinen Hals und reißt mich nach hinten, und ich reiße den Vorhang runter und wälze mich schreiend mit ihm auf dem Fußboden herum. Mein Gesicht ist schweißnass, meine Schlafanzughose hängt mir über die bleichen, dürren Knie, und es sieht aus, als wolle ich den Stoff vergewaltigen. Nein, es sieht nicht nur so aus. Es ist so. Ich beiße in die Stoffbahnen und schmecke alten Staub, lecke an ihm, mein Speichel tropft darüber, und ich keuche. Meine Finger reißen an ihnen, ein ordinärer, geiler Laut poltert durchs Zimmer, ich lausche kurz, wie ein Wolf, hinter dem die Meute her ist, und dieser Wolf wird endlich hart, was der guten Nora ja nicht gelingen wollte - und der Wolf stößt in den braunen, alten Stoff, und tote Spinnen warten auf ihn. Der Wolf schreit, stöhnt und weint, aber niemand ist da, der ihn hört.
    Tick. Tack. Tick, tack. Ich bin der Tick-Talk-Mann. Es ist Morgen, mein Gesicht sieht schrecklicher aus als mein Schlafzimmer. Aber es ist angenehm ruhig. Der Betonklotz von gegenüber steht wieder da, wo er hingehört. Meine Knie sind blutig. Als ich die Bettdecke aufhebe, riecht der nächtliche Schweiß nicht nur muffig - er stinkt wie eine Kloake. Aber zugleich ist es endlich friedlich in mir geworden: Ich bin eine Amöbe, ein Protoplasmaklümpchen, ein lappiges Scheinfüßchen, wie man es auch nennt. Gut so. Nichts. Höre nichts, sehe kaum was, rieche, schmecke, fühle Nada. Ich wälze mich durch die Wohnung als gallertartige Masse, und stelle fest, dass der Gedanke an ein Ich sofort Erbrechen in mir hervorruft.
    So schneide ich mich, jedes Mal, wenn ich an Ich denke, mit dem Küchenmesser in den Unterarm. Das Ich verschwindet nach vielen Einkerbungen, und ich muss meinen Arm verbinden. Aber: gut, gut, gut. Tick, tack, tick ... Selbst die Uhr ist mir gleichgültig geworden, nur ab und zu verfalle ich (Ich, Ich, Ich - verdammt!, wo ist das Messer?!) in das alte Sekundenzeiger-Beobachtungsritual. Zack! Wieder ein Schnitt, und es ist vorbei. Seltsam. Ein Ich, das es gar nicht gibt, kämpft gegen ein Ich an, das es auch nicht gibt. Tick, tack. Leider muss ich auch sagen, dass mein Teppichboden ziemlich schlimm aussieht; einfach zuviel Blut, und den Blutverlust bekomme ich zu spüren, denn ich fühle fast gar nichts mehr vor Schwäche.
    Ich muss dringend etwas essen gehen. Zum ersten Mal seit Jahren ist der Weg zu Noras Bistro leicht, frei, und ich genieße die Abendkühle. Ab und an muss ich mich an einer Mauer festhalten, um nicht vor Erschöpfung hinzufallen. Die Leute sehen mich seltsam an, tuscheln und gehen schnell fort. Ja, geht nur, ihr wunderbaren Menschen. Ich liebe euch alle!  Vor allem liebe ich Nora, die heute einen engen, schwarzen Pulli trägt und mit ihren Haarsträhnen spielt. Sie blickt mich erschrocken an, warum fragt sie nichts? Hey! Warum fragt sie nichts? Die übliche Rentnerband ist wieder versammelt, man trinkt und lallt. Ich bestelle mir einen dicken Schweinebraten, mit Rotkohl und Kartoffeln, einen fetten Schnaps dazu. Und ich rieche ihr Obsession und erwische mich dabei, wie ich rot werde (trotz des Blutverlustes!), in Anbetracht des intimen gestrigen Abends. Ein klappriger Mann im schmutzigen Overall studiert die Bildzeitung so intensiv und lange, als würde er eine wissenschaftliche Abhandlung mit gefurchter Stirn studieren. Das Kinn in der Hand, einen

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