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Terry - Geschichten aus dem Leichenhaus

Terry - Geschichten aus dem Leichenhaus

Titel: Terry - Geschichten aus dem Leichenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Peters
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an: »Nora, halten Sie mich nicht für verrückt, aber Sie sollten nicht allein nach Hause gehen; der Typ dadrüben, mein Gott, also der Gast von vorhin.«
    Sie sieht mich durch den Regenschleier fragend und misstrauisch an, das Haar verklebt ihr Gesicht, die billige Schminke ist verlaufen, und irgendwie sieht sie wie eine Tote aus. Ihre überirdische, wächserne Schönheit verschlägt mir die Sprache, ich stottere noch mehr - so habe ich sie noch nie gesehen.
    Nora schüttelt mit dem Kopf, ich lache etwas hysterisch, als sie antwortet:
    »Dirk, du hast ein paar Jubi zuviel getrunken. Geh', und ruh` dich aus. «
    Sie hat recht, sie hat absolut recht, und als sie mich zart auf die nasse, alte Wange küsst, sehe ich sie mit offenem Mund und starren Augen an. Tränen kullern mir über das  Gesicht. Mich überkommt eine unbändige Lust, mit ihr zu schlafen. Von mir aus gleich hier zwischen den umgekippten Mülltonnen und rostigen Containern, zwischen Ratten und Müll. Und ich weiß genau, dass ich heute nicht versagen würde. Sie hätte diesmal keinen Grund, mich auszulachen, so wie letzte Nacht in meiner Phantasie, das alte Miststück!
    Im Hintergrund höre ich ein altes Lachen, sehe aber niemanden.
    Als ich mich umdrehe, ist Nora verschwunden. Nur ein Hauch von Obsession hängt in der rußigen Luft, gleichzeitig rieche ich meinen eigenen alkoholschwangeren Atem, spüre meine unbefriedigte Begierde, rieche Alter und Tod, fühle Kälte und Nässe auf meiner Gänsehaut.
    Schon wieder dieses Lachen in Richtung Container! Der Alte geht mit seinem Schlurfgang zu den Bahngleisen und zieht dabei wieder die dürren Schultern nach oben, als hätte er sie nicht mehr alle. Eine rasende Wut überkommt mich.
    Ich folge ihm über die leeren Straßen, und befinde mich auf einmal auf dem verrotteten Bahnhof, der gerade mal Platz für vier Züge hat. Eine hohe Backsteinmauser, über die rotes Weinlaub wächst. Daneben ein unbenutzter verrosteter Fahrradständer und ein Mini mit eingeschlagenen Fensterscheiben, über die jemand uralte Teppiche gehängt hat. Die Wagentüren hängen wie tote Flügel über dem Pflaster, und innen ist er total ausgeschlachtet, nur eine ausgehungerte Katze flüchtet kreischend aus dem Wagen. Im Hintergrund höre ich das Geschnaube einer S-Bahn, und Regenschleier verdecken den Alten völlig, aber nicht ausreichend. Er geht zum Tunnel, deshalb vermute ich, dass er den Zug nehmen will. Aber er wird ihn niemals erreichen - zuviel hat er mir angetan, ich will ihn nie wieder sehen.
    So starre ich in den Tunnel; die Bahnhofsuhr, deren Glas zerbrochen ist, zeigt noch die Sommerzeit. Niemand hat es wohl für nötig befunden, sie umzustellen. Es muss entweder drei oder vier Uhr morgens sein. Der Tunnel lässt mir keine Ruhe. Vier Gleise verlaufen durch ihn, allesamt von Unkraut überwuchert. Der Alte steht ein paar Meter vor mir, und sein völlig durchnässter Anzug schlottert im Wind. Von fern sehe ich gelbe Scheinwerfer, die sich durch den Morgennebel quälen. Auf einmal denke ich an die vergangenen Stunden, und ein Kloß, dick wie ein Kinderkopf, sitzt mir im Hals. Ich sehe auf das rote Weinlaub über der riesigen Mauer, sehe den alten Mini, die Container, kann die Dunkelheit fühlen, die nicht mal durch die Neonröhren aufgehellt werden kann, die in alten Fassungen krakengleich aus dem Bahnhäuschen ragen. Die verrosteten Schienen führen müde zu dem immer näher kommenden Zug, und ich werde furchtbar müde. Das Ganze kommt mir wie ein einziger Todesfluß vor. Und der Todesfluss  heißt Styx. Ich werde den Alten vor den Zug werfen, nur noch ein paar Meter. Wenn ich ihn opfere, kann ich vielleicht auferstehen! Ich spüre die heiße, schmutzige Luft der heranrasenden Maschine, und meine Hand schiebt sich nach vorn, gleich fühlt sie den nassen Stoff, und dann wird sie stoßen. Da dreht sich der Alte blitzschnell um, vor Schreck verliere ich fast den Halt. Seine Billardkugel-Augen sehen mich an, er lacht und schüttelt den Kopf. Ich kann seinen stinkigen Atem riechen, stinkiger als jeder Müllcontainer, und mich packt wieder die Wut.
    Als der Zug bis auf ein paar Meter herangebraust ist, nickt der Alte kurz, verbeugt sich grinsend vor mir und macht eine devote Geste mit dem Arm.
    Dann lässt er sich nach hinten fallen, genau vor den Zug, ich höre ein schmatzendes, knirschendes Geräusch, und eine Fontäne aus Blut spritzt über mein Gesicht. Irgendwie ist es mir gelungen, nach Hause zu kommen. Stolpernd, keuchend,

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