Terry - Geschichten aus dem Leichenhaus
gleich zu Ende sein. Aber bitte nicht so simpel, wie etwa: Ich erwache, und finde mich schon wieder hier in dieser Totenstadt, und das Spiel beginnt von vorn. Und wieder, und wieder. Da packte mich die Alte bei der Hand und zog mich zu sich hinauf in die Straßenbahn. Ich war vor Schreck und Schwäche vollkommen überwältigt und setzte ihr nur geringen Widerstand entgegen. Dann steckte sie drei verkrustete Finger in den Mund. Sie pfiff, und die Bahn setzte sich rasendschnell in Bewegung. Zu schnell für ein Modell aus einer Zeit, in der ich noch gar nicht auf der Welt war. Ich kauerte mich wie ein Embryo auf dem morschen Boden der Tram zusammen, die kreischend und heulend in Richtung Brücken fuhr. »Nein! Nicht wieder dorthin!! « schrie ich, und die alte lachte, griff sich in den Mund und holte ihr altes, triefendes Gebiss heraus. Zwischen den gelblichen Zahstümpfen fielen LightFire auf den Boden. Angewidert blickte ich zur Seite. Doch sie packte meinen Kopf mit der linken Hand, und riss mit der rechten alle meine Zähne heraus. Der Schmerz war mörderisch! Ich schrie, heulte und schlug wie ein Wahnsinniger um mich. Das Blut lief mir aus dem Mund wie ein Sturzbach. Ich schlug um mich, doch da holte die Vettel nochmals aus und stopfte mir ihre eigene Prothese in den Mund. Ich heulte wie ein Tier auf vor unendlicher Qual. Als ich würgte, mich vor Abscheu beinahe übergab, sah ich die Brücken auf uns zukommen, die Brücken mit ihrer wahnsinnigen Architektur, das unendlich dunkle, malmende Wasser, das Ödland, das es umgab, die Weite, die entsetzliche, leere Weite ... Leeeerrrr ... Nein, nicht ganz! In den schmatzenden, braunen Wassern des Flusses schwamm irgendetwas, das zwei bleichen Armknochen, oder einer mit Haut überzogenen Maschinenkolben ähnelte. Aber zum Glück konnte ich nur die Arme sehen, die Gelenke, die sich in den Fluten ihren Weg bahnten, die Fluten, die dort kochten und sprudelten. Halb Mensch, halb Echse. Eine unsägliche Manifestation der Degeneration. Ich stand am Geländer und fühlte mich haltlos wie Kies, der von einem Laster fällt. Doch da verschwand das Ding wieder, die dunklen Wasser stiegen, und ich würgte an dem Gebiss der alten Frau, an dem modrigen Geschmack ihrer verkrüppelten Hand. Dann schluckte ich das Blut hinunter, sprudelnd aus dreißig kleinen Wunden. Die Wolken sahen wie lumpige, alte Männer aus, die sich müde verabschieden. Ich konnte nicht mehr auf die Wellen schauen, deren brauner Schlamm nicht mehr enden wollte, denn mir war schwindelig. Und dann. kam die Bewusstlosigkeit. Schwärze. Aber dann wurde es wieder hell. Ich erwache und fühle mich zum ersten Mal nach einem Alptraum nicht ausgesogen und matt. Mein Bewusstsein ist sogar so klar, wie lange nicht mehr. Es scheint mir, als habe ich in den letzten Jahren nur eine kleine Glühbirne zur Verfügung gehabt, doch nun sehe ich richtig, kein Punktlicht mehr - nein: Flutlicht. Alles klar, alles deutlich. Nur meine Glieder tun mir unendlich weh, als habe ich die ganze Nacht mit meinem Freund ..., na, na ja ... Komme gleich auf seinen Namen. Und auf meinen. Und überhaupt auf alles. Wer bin ich? Bin ich vielleicht nur die Höhle und diene der Stadt, dem Ödland mit seinen schrecklichen Brücken als Versteck?
Ich bin das Messer, und ich bin die Wunde. Oder? Nur Geduld. So öffne ich die Augen und blicke auf die Zeiger einer alten Bahnhofsuhr. Drei an der Zahl. Meine Bewusstseinserweiterung zeitigt zugleich eine enorme Zunahme von Panik. Sind wohl die Risiken und Nebenwirkungen derselben. Nur nicht weinen, nur nicht weinen. Natürlich dürfen die zehn alten Brücken nicht fehlen, ebenso wenig wie die beängstigenden Gewässer. Ja, und dort steht auch die garstige Alte mit ihrer Zirkusjacke und blauen Diensthosen. Sie hält sich am Geländer fest und spuckt ins Wasser. Im Malpaso sind die abendlichen Lichter angegangen, die Liegestühle in den Vorgärten weggeräumt. Dann fange ich an, ganz leise zu beten, denn mir wird klar, dass ich diese weit auseinander liegenden Plätze zugleich sehen kann. Ich krame in meiner roten Jacke nach Zigaretten, finde eine und spucke die glühende Kippe der letzten auf die Brücke. Ein heißer Schmerz fährt durch meine rostigen Glieder, als sie zischend auf mir landet. Womit kann ich nur schreien? Meine alten Beine tragen mich auf die Stufen der Tram. Ich gehe hinkend in mein Abteil, auf dem steht: Nur für Diensthabende und kralle mir die Gitarre vom Gepäckständer. Dann gehe
Weitere Kostenlose Bücher