Terry - Geschichten aus dem Leichenhaus
man mir großzügig Einlas in den Kreis der Mittelmäßigen, der verdammt groß war, und ich glaube, das ist auch so das einzige, was bis heute so geblieben ist. Immer dann, wenn sie mit den eigenen bescheidenen Studien nicht klarkamen und sie Hilfe von mir wollten. Hinterher lieh man mir sogar die neueste Pretty Things-Scheibe, obwohl ich lieber Brian Auger und July Driscoll hörte.
Funzel hielt sich von Kellerfaltenhosen und Pretty Things genauso fern wie von guten Noten. Er hörte lieber »Unauffälliges« aus deutschen Kehlen; er kam mit dem »Neuen« nicht so klar. Es war ihm alles zu »unmoralisch«, wie er es ausdrückte, und wir hörten das Wort, als habe es ein Achtzigjähriger gesagt. So ließ ich ihn in den Pausen großzügig neben mir stehen, um nicht immer die Nase in eine Biographie stecken zu müssen, und so zu tun, als sei ich gerne allein. Funzel hatte dazu noch eine sehr seltene Eigenschaft: Er konnte zuhören. Er suchte nicht – wie die meisten – im Gespräch nach Wörtern, die wie Haken sind, um an ihnen das eigene vernachlässigte Ego samt dessen Stories festzumachen. Er missbrauchte mich nicht als Souffleur, wenn ich ihm etwas erzählte. Böswillig könnte man sagen, Funzel konnte gut zuhören, weil er selbst nichts zu sagen wusste. Doch diese Auslegung überließ ich lieber der Gruppe, die zynisch in unsere Richtung grinste.
Es war die Zeit, in der unsere Interpretationen, zum Beispiel über Kafkas Verwandlung, nicht mit: „... interessant, lass uns mal darüber diskutieren“, kommentiert wurden, sondern mit: Schwachsinn, Blödsinn, abartig. Deutschlehrer Hermann stand mit einem seiner beiden
knittrigen Anzüge vor uns (er hatte einen grauen und einen braunen), jeweils mit einer gelblichen Pissrinne unter der Reißverschlusshose.
Die dünne, braune Krawatte hing sinnlos auf dem verblichenen Nyltesthemd, aus dem die Schüler in der ersten Reihe des Sommers jede Menge Schweiß mitbekamen.
Ich weiß noch, als wir alle nach der Pause in die Klasse drängten, Funzel in der Mitte, der von Willi wieder mal geschubst wurde. Willi, mit zwei Sechsen und einer Fünf, dafür Oberarme so dick wie sein Kalbsschädel. In einem seltenen Anflug von Gegenwehr – wahrscheinlich wusste er gar nicht, gegen wen – drehte sich Funzel um, und seine Faust erwischte aus Versehen die spirrige Sandra an ihrer Flachbrust.
Hermann interpretierte die Situation natürlich falsch und gab ihm eine Ohrfeige, die Funzel quer über zwei Tische beförderte.
Sandra lachte hysterisch, Willi gurgelte nur noch mit hochrotem Kopf und zeigte wiehernd auf Funzel, der sich hochrappelte und dabei mit der Rechten die Tränen abwischte.
In der nächsten Pause sagte Funzel zu mir: „Weißt du, in der letzten Nacht hatte ich einen Alptraum. Was für einen, weiß ich nicht mehr. Aber ich hielt mich diesmal nicht wach und legte mich ruhig wieder hin. Denn ich bin dahintergekommen, dass ich den Alptraum mache! Und wenn ich was mache, wie kann das falsch sein? Alle sagen, ich mach alles falsch. Aber im Grunde weiß ich, dass ich alles richtig mache. Im Alptraum bin ich mein eigener Schauspieler und Regisseur zugleich.“
Dann lachte er überzogen und ruderte mit den Armen, als wolle er Fliegen fangen. Sein Statement gab er wieder halb stotternd von sich, noch nicht mal stottern konnte er richtig, und selbst ich bin nicht sofort dahintergekommen, was er damit meinte. Aber das ist der einzige Satz, den ich aus dieser Zeit behalten habe.
Nein. Halt. Da ist noch etwas, was er mir mitgegeben hat, etwas, worüber ich mit nur wenigen gesprochen habe, und die Wenigen haben mich – ja mich – deswegen ausgelacht. Gleichzeitig freue ich mich, dass unsere Freundschaft, so sie denn eine war, doch nicht gänzlich von mir bestimmt war.
Ich stellte ihm die stumpfsinnige Frage, die sonst nur von alten Tanten an Sonntagen beim Kaffee gestellt wird: „Hey, Funzel. Was willst du eigentlich mal werden?“
Er öffnete langsam den Mund, kramte in seiner Hosentasche herum und gab mir als Antwort einen alten Zettel, auf dem die Buchstaben wie Hieroglyphen aussahen. Ich las:
Es steht ein Stern am Himmel. Ein Sternlein guter Art. Das tät so lieblich scheinen, so lieblich und so zart. Ich kannte seine Stelle, trat abends vor die Schwelle und suchte, bis ich’s fand.
Den Rest konnte ich nun tatsächlich nicht mehr lesen, die Buchstaben waren zu abgegriffen. Stattdessen sagte Funzel leise: „Das ist es, was ich werden will.“ Damals glaubte ich, er
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