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Terry - Geschichten aus dem Leichenhaus

Terry - Geschichten aus dem Leichenhaus

Titel: Terry - Geschichten aus dem Leichenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Peters
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Mund. Ich zündete mir eine Zigarette an und betrachtete ungläubig eine vergammelte Hausbar, auf der sich aufgespießte Rechnungen, alte Pizzateller samt Essensresten und Nippes befanden.
    „Hallo“, sagte ich erschrocken, als ich beinahe über ein männliches Subjekt, so um die Vierzig – also in meinem Alter – gestolpert wäre, das mit schmierigen Haaren und braunem, verschlissenem Pulli vor mir auf dem Boden hockte und in einem alten Aktenordner rumwühlte. Er erinnerte mich an irgendeinen Gnom in einem Fantasyfilm, der in einer mittelalterlichen Höhle nach dem Stein der Weisen sucht. Ich hatte ihn schon gefunden. Oder?
    „Oh, hallo“, sagte das Subjekt. „Sch... schauen Sie sich nur um, ich komme gleich. Das Finanzamt, w... wissen Sie.“
    Als er meine 1200-Euro-Schuhe sah, zuckte er leicht zusammen.
    Herr »No Limits« freute sich. Sein gleich ärgerte mich – warum nicht sofort? – doch der Blick auf seine grauen Plastiksandalen versöhnte mich. Wahrscheinlich trug er abends in der Kneipe eine Baseballmütze wie viele in diesen Kreisen, um sich damit endgültig zum Trottel zu machen. Am Tresen erzählte er wohl auch von der russischen Gefahr – „Schirinostra – oder so ähnlich“, vor der man sich in acht nehmen müsse.
    Der Inhaber – was für eine Bezeichnung! – kam mir irgendwie bekannt vor. Seine seltsame Aussprache, sein Gestottere ... Meine Gedanken waren genauso durcheinander wie seine vergammelten Möbel, die er wohl vom Sperrmüll geholt hatte. Ich sah ihn mir näher an. Sein altes, doch sauberes Hemd, das ledrige Gesicht und sein rechtes Ohr, das wie ein alter Wimpel zur Seite hin abstand. Dann fiel mir wieder der alte Hermann ein, den ich vor wenigen Minuten erst erwähnt hatte – Hermann, der Deutschlehrer.
    Und plötzlich erkannte ich den Typ vor mir: Es war Funzel, mit dem ich sechs verdammte Jahre in der Schule gewesen war, der nie anders hieß und der sein eigener Alptraum war. Infantil würde man ihn heute nennen, bekloppt und strohdoof sagten wir damals mit der Brutalität der Unschuldigen. Im Schulsystem der sechziger Jahre, dessen komische Seite heute in unzähligen Filmen gezeigt wird. Aber nur diese Seite. Die abartige Seite bekamen Zeitzeugen wie Funzel und ich mit, die Seite, die niemals aufgedeckt wird, da sich die sogenannten Kulturkritiker lieber mit Polit- und Kirchenklüngel der Adenauerära befassen. Vielleicht sind sie zu jung, oder zu alt und haben es verdrängt.
    Heute würde man Funzel in eine Schule für Lernbehinderte stecken, um ihn damit für sein Leben zu behindern. Genauso, wie man heute den »Lehrkörper« meiner Generation in eine Heilanstalt verfrachten würde. Der »Lehrkörper« war damals im Durchschnitt 65 Jahre alt und alles andere als die Pädagogen in TV-Serien, die stets ein offenes Ohr haben.
    Hätte uns in dieser Zeit jemand gesagt, dass in den Neunzigern die Lehrer kurz davor standen, Bodyguards zu engagieren, und dass einige durchgeknallte Schüler nicht mehr mit Papierkügelchen werfen, sondern statt dessen Kugeln aus Blei bevorzugen, die aus Schnellfeuerwaffen so zehn bis zwanzig Schüler – samt Lehrer – abknallen, oh, was hätten wir gelacht und an die Stirn gezeigt.
    Und – o Gott – jetzt rede ich wie ein Siebzigjähriger in der Stammkneipe. Doch bis dahin fehlen noch ein paar Jährchen ... Trotzdem! Es sind die ersten Anzeichen dafür, dass das Alter seine garstigen weißen, knöchernen Finger nach mir ausstreckt. So zucke ich schnell zurück, doch auch das Zucken dauert schon länger als früher.
    Unsere Lehrer hatten im Krieg das Durchschlagen gelernt, und es mit Einschlagen auf uns zur wahren Meisterschaft gebracht. Es wurde unglaublich viel geprügelt; auch die Mädchen. Zur 68'er Revolte war es noch mehr als acht Jahre hin, dann wurde man sowieso pensioniert.
    Als die Beatles mit Love me do einen zaghaften Schritt wagten, und mit diesem zugleich Big El vom Podest stießen, mit einer Anlage, über die sich heute jede Schülerband halb totlachen würde, war Funzel der Bekloppte und ich der Kluge, um beim Jargon dieser Zeit zu bleiben. Ich war immer der Streber, der sich niemals anzustrengen brauchte, der damals schon wusste, dass in dreißig Jahren jede seiner Handbewegungen Cash heißt.
    Die Schulkameraden machten um uns beide den Bogen der Einsamkeit. Um Funzel, weil man mit ihm nicht gut dastand – er brachte ja nichts – und um mich, in dessen Licht man zuviel eigene Blödheit sehen konnte. Nur ab und zu gewährte

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