Tesarenland (German Edition)
Dabei stößt sie die Schüssel von dem Mädchen hinter uns an. Wasser schwappt heraus, läuft Sandra über die Beine und bildet auf dem Holzboden eine dunkle Pfütze. Sandra zögert nicht lange, sie knotet ihr langes schwarzes Haar im Nacken zusammen, dann taucht sie die Hände in ihre Schüssel und spritzt mich mit einem breiten Grinsen im Gesicht nass.
»Das wirst du büßen«, sage ich lachend. Am Ende schwimmt die ganze Hütte und wir alle stehen triefend nass und mit hochroten Gesichtern da. Meine kleine Schwester schüttelt sich aus vor Lachen. Ich freue mich mit ihr. Sie schaut mich aus großen Augen hoffnungsvoll an.
»Ich glaube, hier wird es lustig werden«, sagt sie.
Ich beschließe nicht zu antworten und trockne mich ab, damit ich endlich in mein neues Bett kann. Was auch immer uns hier erwartet, es kann nicht so schlimm sein, dass wir das hier nicht genießen können. Aber ich traue dem Frieden noch nicht ganz. Da ist diese kleine Stimme in mir, die versucht mich zu warnen. Wer weiß, vielleicht werden wir hier ein ganz neues, viel schöneres Leben führen. Aber für wie lange? Ich wage nicht, zu hoffen – noch nicht.
Am nächsten Morgen werden wir mit der Dämmerung geweckt. Wir müssen uns alle in der Mitte der Kolonie versammeln. Es ist klirrend kalt, aber unsere neue Kleidung hält den Frost fern. Gespannt warten wir. Wir stehen nach unseren Hütten sortiert. Das ist gut, so kann ich mir einen Überblick machen. Zehn Personen je Gruppe, nur zwei Gruppen sind kleiner; eine Jungen-, eine Mädchengruppe. Ich zähle siebenundachtzig. Einige Gesichter erkenne ich aus Kolonie D wieder. Da ist Luca. Er steht mir gegenüber und lächelt mich an. Ich lächle zurück. Irgendwie bin ich froh, ihn zu sehen, auch wenn wir in der Kolonie kaum Kontakt hatten. Wahrscheinlich liegt es daran, dass er Kayla gerettet hat, am Tag, als sie Mutter geholt haben. Oder es liegt daran, dass er versucht hat, mich vor dem Anblick der verkohlten Kinderleiche zu schützen.
Um uns herum kann ich vier Tesare entdecken. Am Brunnen steht die Frau, die uns untersucht hat. Sie tippt wieder etwas in den Ausleser. Ein Tesar steht neben ihr. Die Zwei unterhalten sich. Es sieht fast schon vertraut aus. Sie legt dem Tesar sogar eine Hand auf den Arm, als wären sie Freunde. Kann es sein, dass Tesare und Menschen befreundet sind? Kann ein Mensch vergessen, was sie uns angetan haben? Ich bin so aufgewachsen, kenne kein anderes Leben, aber selbst ich mag die Tesare nicht besonders. Weil ich weiß, dass es uns ohne sie besser gehen würde. Wir könnten Schulen besuchen, hätten immer genug Essen, Kleidung, Medikamente. Wir könnten uns frei bewegen, wohin auch immer wir wollen. Ohne Tesare gäbe es auch keine Lichtzäune.
Die Frau blickt auf, der Wind bläst ihr ein paar Strähnen ihrer langen Haare ins Gesicht. Es scheint sie nicht zu stören. Selbst nicht, als sich eine Strähne über ihre Augen legt. »Jasmin Dressel aus Kolonie D«, verliest sie. »Dieses Haus dort ist die Funktionshütte .« Sie weist auf ein kleineres Haus aus festem Gestein, das etwas abseitssteht. »Du meldest dich sofort da drin. Sven Neumann, Dany Schwer und Steve Morgner ebenfalls.«
Jasmin und die anderen machen verwirrte Gesichter, aber sie laufen über den Platz auf das Steinhaus zu. Jasmin und Sven sind die ältesten. Die beiden anderen sind jünger. Sie folgen den Großen mit etwas Abstand. Ihre Schritte sind unsicherer als die der Großen. Sie haben Angst. Ich hoffe, dass sie keinen Grund dazu haben müssen.
»Die anderen sind für die Arbeit in der Mine eingeteilt .« Die Frau deutet mit dem Finger auf ein schwarzes Loch, das hinter uns in einer Felswand klafft. »Das hier läuft so«, erklärt sie weiter. »Ihr arbeitet bis Mittag in der Mine, dann gibt es Essen, dann arbeitet ihr bis zum Abend weiter. Im Funktionshaus findet ihr eine medizinische Station, sollte es einem von euch nicht gut gehen. Ich wünsche, dass ihr euch dort meldet, sobald ihr denkt, ihr könntet krank sein.«
Medizinische Versorgung? Das wurde ja immer unglaublicher. Was auch immer wir hier machen sollten, muss den Tesaren wichtig sein. So wichtig, dass sie sich die Mühe machen, sich um unsere Gesundheit zu sorgen. Das erklärt natürlich auch die Spritze.
Kayla greift nach meiner Hand und drückt sie ganz fest. Ein Zeichen, dass sie glücklich ist. Ich denke, in Anbetracht unserer Lage können wir wirklich glücklich sein. Vielleicht, geht es mir durch den Kopf, ist
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