Tessa
zwängt sich in ihre enge Jeans und zieht ein durchlöchertes altes Kreator-T-Shirt über. Wie lange muss sie jetzt auf seinen Anruf warten? Warum hat sie ihn nicht nach seiner Nummer gefragt, dann könnte sie sich melden. Sie legt sich auf ihre Couch und wartet ungeduldig darauf, dass das Antidepressivum wirkt. Er will sie sehen. Aber warum hat er dann noch nicht angerufen? Sie starrt ihr Handy an, das auf dem Boden neben ihr liegt. Sie hebt es kurz hoch, um zu checken, ob sie nicht vielleicht doch eine Nachricht von ihm übersehen hat.
Sie guckt den ganzen Tag fern. Irgendwann fängt sie an, Frieder zu hassen. »Wie übertrieben, ich habe dich überall gesucht«, spricht sie leise vor sich hin. Außerdem war er auch schon bei ihr. Sie glaubt ihm kein Wort. Nach der vierten Doku-Soap mit schlecht ernährten Menschen schaltet sie den Fernseher aus. Ihr ist übel. Sie könnte sich um einen neuen Job kümmern? Vielleicht muss sie aber erst kurz schlafen. Sie zieht sich wieder nackt aus, legt sich in ihr Bett und schließt die Augen. Einen kurzen Moment später versinkt sie in die ersehnte Traumlandschaft. Schlafen kann sie immer. Aber sie wird nicht von dem erhofften Klingeln geweckt, sie wacht von alleine auf. Es ist noch nicht dunkel. Die Sonne steht tief, und eine tiefe Einsamkeit macht sich in ihren Körper breit. Sie fängt vor Selbstmitleid an zu heulen.
Laut schrillt die Klingel im Flur, erschrocken richtet sie sich auf. Ihr Herz klopft. Sie versucht das Klingeln auszusitzen. Aber es hört nicht auf. Schrill schreit es durch die Wohnung. Wut steigt in ihr hoch. Sie greift nach dem Bademantel, streift ihn über und marschiert auf den Balkon. Die ordentlich gepflegten Balkonblumen vom Nachbarn unter ihr versperren den Blick auf die Eingangstür. Sie brüllt ins Leere: »HÖR AUF ZU KLINGELN, verdammt!« Tatsächlich verstummt es in ihrer Wohnung. Sie holt Luft, kann plötzlich wieder normal atmen.
Nicks dunkles Haar kommt zum Vorschein. Er sieht zu ihr hinauf. »Was ist los? Mach auf.«
»Nee!«, brüllt sie zurück. »Ich will mit keinem reden, und ich will keinen sehen. Nicht ans Handy und an die Tür gehen bedeutet keinen Bock. VERSTANDEN?«
Irgendwas in seinem Gesicht bricht zusammen. Er sieht sie leer an und schüttelt den Kopf. Es berührt sie. Er wendet sich ab, läuft über die Straße. Und sie betet, bitte dreh dich noch mal um, dann will ich dich zurückrufen. Aber er verschwindet um die Häuserecke. Er strengt sich einfach nie genug an. Sie geht zurück in ihr Schlafzimmer, streift ihren Bademantel ab, setzt sich auf die Bettkante, überlegt, springt auf, greift nach einem weißen Kleid, schlüpft in ihre Turnschuhe, rennt zur Wohnungstür hinaus. Hastet die Treppenstufen runter. Sprintet die Straße entlang, ein Lächeln huscht über ihr Gesicht. Lachend erreicht sie ihr Ziel. Sie greift nach einer Rotweinflasche, billig, aber gut, kennt sie und hat sie sich gemerkt. Und noch Kippen, sie kramt ihr Kleingeld aus der Tasche. »Kann ich den restlichen Betrag anschreiben lassen?« Sie lacht ihr süßes Lachen. Der Vietnamese hat offenbar keinen Humor oder hat sie nicht verstanden, aber er nickt trotzdem ernst. Irritiert dreht sie sich weg.
Mit der Flasche in der Hand geht sie in die Küche, der Korkenzieher hängt an seinem festen Platz. Das Rotweinglas steht sauber im Regal. Sie gießt sich das Glas voll. Schwenkt es und trinkt. Der Bordeaux schmeckt satt und herb. Sie ist in einer feierlichen Stimmung. Und entschließt sich zu einem Bad. Sie sucht nach verstaubten Teelichtern, die sie in ihr fensterloses Badezimmer bringt und ordentlich auf dem Badewannenrand aufreiht.
Das Wasser ist fast einen Tick zu heiß. Sie bleibt erst einmal in der Hocke und nimmt einen Schluck Wein. Langsam gleitet sie in die Badewanne, das Glas bleibt in der Hand, dann taucht sie unter, das Wasser läuft in ihre Ohren und kitzelt sie fast unerträglich, aber nur kurz, und danach befindet sie sich in dem Zustand wie in den Wolken oder im tiefen Stillen Ozean. Sie hat ihre Augen geschlossen, und aus der Ferne hört sie das Handyklingeln. Sie taucht erschrocken auf, und Wasser schwappt aus der Badewanne. Ruhig, denkt sie, Glas abstellen. Sie springt aus der Badewanne, rutscht im Flur fast aus, kann sich gerade noch halten. Rennt ins Schlafzimmer, greift nach dem Handy, eine fremde Nummer steht im Display, sie zwingt sich, zu Atem zu kommen. Will gewollt gelassen eine Begrüßung ins Telefon flöten, stattdessen ein
Weitere Kostenlose Bücher