Tessa
fragt die Krankenschwester Modou unter zusammengezogenen Augenbrauen.
»Nein, ich habe sie nur gebracht. Ich muss gehen wieder.« Er dreht sich zu Tessa. »Au revoir.«
Tessa greift nach seiner Hand. »Bitte nicht gehen.«
»Ich muss.« Sanft schüttelt er ihre Hand ab. Und sie beobachtet, wie er den langen Krankenhausflur mit gesenktem Kopf entlanggeht. Allein, hämmert es in ihrem Kopf, allein.
»Kommen Sie bitte mit.« Die Schwester hat einen Arm um sie gelegt und führt sie in ein Behandlungszimmer. Dabei versucht sie, ihr die Whiskeyflasche abzunehmen. Tessa krallt sich daran fest. Die Schwester schnaubt leise durch die Nase, aber gibt auf.
Nachdem man sie genäht und ihre Wunden verbunden hat, steht Tessa vorsichtig auf. Der Arzt fragt nach dem Täter, aber Tessa schweigt. Resigniert wünscht er ihr »Gute Besserung«. Die Schwester bringt sie zu den Telefonzellen im Eingangsbereich. Endlich lässt sie die Whiskeyflasche los, die sie auch während der Behandlung fest umklammert gehalten hat, stellt sie auf dem Apparat ab und gibt vor, jemanden anzurufen. Aber sie ruft keinen an. Sie versucht sich zu erinnern, wen sie anrufen könnte, aber ihr fällt niemand ein. Die Krankenschwester beobachtet sie von Weitem, und so spricht sie in den Hörer hinein. Tut so, als würde jemand am anderen Ende der Leitung sein, der besorgt um sie ist, der sich kümmert. Langsam lässt sie den schweren Telefonhörer zurückgleiten, greift nach der Flasche und geht zurück zur Schwester, um ihr mitzuteilen, dass sie auf ihren Freund vor dem Krankenhaus wartet.
Es hellt auf. Rosa durchzieht es den Himmel. Der Boden ist voller Pfützen. Die Vögel um sie herum bleiben stumm. Sie geht zum Taxistand vor der Klinik. Ihr ist kalt. Sie spürt die kühle Luft an Armen und Beinen, wärmend reibt sie sich mit ihrer freien Hand den Oberarm. Ein Taxifahrer lehnt wartend an der Kühlerhaube seines Wagens mit einer ausgebreiteten Zeitung in den Händen. Er sieht sie näher kommen, faltet die Zeitung zusammen. Sein Gesicht ist grob, aber sie hat keine Angst. Sie braucht nie wieder Angst zu haben. Er umrundet das Taxi, geht zur Beifahrerseite. Sie steuert direkt auf ihn zu, doch wenige Meter vor ihm bleibt sie abrupt stehen. Zögert. Entscheidet sich um. Schüttelt den Kopf. Alles wird klar. Sie weiß, was sie will. Sie mag laufen. Sie mag leben. Sie mag die Kälte spüren. Sie lässt ihren Arm sinken. Entspannt sich. Lässt los. Dann friert sie halt. Sie entkrampft die Hand, mit der sie die Flasche fest umklammert hat, und langsam gleitet sie durch ihre Finger. Das laute Krachen zerreißt die Stille. Sie beobachtet das Splittern des dunklen Glases. Die braune Flüssigkeit breitet sich zu ihren Füßen aus. Sie dreht sich weg, fängt an zu laufen, geht kleine Schritte, damit die frisch genähten Wunden nicht aufreißen. Ihre Absätze schlagen dumpf auf das Kopfsteinpflaster. Sie hat nur dieses Leben. In der Ferne ragt der Fernsehturm. Sie hört das Krächzen einer Krähe. Das Laub raschelt unter ihren Füßen. Sie wird sich bei Charlotte entschuldigen, sie hat Fehler gemacht. Sie wird sich ändern. Sie wird ihrer Psychologin sagen, dass sie mit dem vielen Trinken und den Drogen aufhören will, dass sie Hilfe braucht. Hilfe. Sie muss anfangen, ehrlich zu sein. Hoffnung keimt in ihr auf.
Als sie in ihre Straße einbiegt, sieht sie blaues Licht in kreisenden Bewegungen. Ihre widerliche Nachbarin, die Pennerin, liegt am Boden. Ihr Hund steht winselnd neben ihr und schleckt ihr über das warzenverhangene Gesicht. Sanitäter machen Wiederbelebungsversuche. Rotes und blaues Licht lassen die Szene unwirklich erscheinen. Sie hat es nicht geschafft. Der Ekel fällt von ihr ab. Sie spürt so etwas wie Mitleid. Tessa reiht sich zu den wenigen Schaulustigen und fängt hysterisch an zu lachen.
Dank
Ich möchte mich bei Ingo Niermann und Jackie Thomae fürs Lesen und kluge Kommentieren bedanken. Ich danke Lily-Kay & Poppy Karlsson, María Sólrún Sigurðardóttir, Rufus Wainwright & Jörn Weisbrodt, Daniel Schreiber, Stephanie Franzius, Cinderella Baksa-Soós, Ilona Bublitz, Yvonne Martini, Sven Peitzner, Jessica Bewernick, Justine Beatty, Paula Schopf & Thorsten Lütz, Fubbi Karlsson und meiner Familie, die mich während des Schreibens begleitet, unterstützt und ermutigt haben. Tanja Graf und Petra Eggers möchte ich danken, weil sie das Buch möglich gemacht haben. Und ganz besonders möchte ich Henrik danken.
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