Testament liegt im Handschuhfach: Unterwegs mit der Mitfahrzentrale (German Edition)
anrufen?«, fragt Daniel, als Valerie in Frankfurt aussteigt. »Klar.« Valerie grinst. Am nächsten Wochenende bekommt sie eine SMS. Daniel will sie treffen und schlägt ein Open-Air-Kino vor. Warum nicht?
Zwei Tage später sitzen sie auf dem Rasen vor der Leinwand und trinken Bier. Es ist noch hell. Bis der Film beginnt, dauert es noch eine Stunde. Valerie ist gespannt, in welche Richtung sich das Date entwickeln wird. Der Kuss auf dem Rastplatz war echt daneben, aber vielleicht kriegt Daniel doch noch die Kurve.
Damals, auf der Hinfahrt nach Hamburg, sprudelte es aus beiden nur so heraus. Gerade Daniel hat sehr viel von seiner Ex-Freundin erzählt. Die ist nach dem Kuss natürlich tabu. Also fragt Daniel, was Valerie die Woche über gemacht hat. Sie erzählt von den Windpocken, die in der Kita grassieren, was beide nicht sonderlich interessiert. Valerie versucht es mit einem anderen Thema. »Was sind denn deine Lieblingsregisseure, welchen Film hast du zuletzt gesehen?« Fast mechanisch antwortet er »Cohen-Brüder« und »The Departed« , und schweigt dann wieder.
Er nippt pausenlos an seinem Bier, sie dreht ziellos einen Kronkorken in der Hand. Es hat keinen Sinn. Valerie merkt, dass sie überhaupt nicht zusammenpassen. Sie versteht, dass sie sich auf der Hinfahrt im Auto etwas eingebildet hat. Es war, wie wenn man mit jemandem in einem Fahrstuhl steckenbleibt. Dadurch, dass man dieser Situation nicht entfliehen kann, lässt man sich aufeinander ein und kann sich plötzlich alles erzählen. Man findet sich sympathisch und hat die vage Hoffnung, dass aus dieser ungewöhnlichen Bekanntschaft mehr werden könnte. Sobald der Fahrstuhl aber wieder funktioniert oder die gemeinsame Autofahrt zu Ende ist, ist alles nicht mehr so richtig spannend. Denn die einzige Gemeinsamkeit, die man hatte, gibt es nicht mehr.
Valerie ist froh, als die Leinwand aufleuchtet und der Film beginnt. No country for old men von den Cohen-Brüdern. Nach dem Film gehen die beiden schweigend zum Ausgang. Plötzlich packt Daniel Valerie und drückt sie an die Wand eines Klocontainers. Er presst seine Lippen auf ihren Mund und will sie küssen. Valerie ist völlig überrumpelt, stößt ihn entschieden weg und schüttelt den Kopf. DEN Typ fand sie attraktiv? Der Zauber, den Daniel im Auto versprüht hatte, ist nun ganz und gar verflogen. Er will mich einfach ins Bett kriegen, denkt sich Valerie entrüstet. Doch nur so ein typischer Macho.
Wer ein gelungenes Beispiel für europäische Integration sucht, ist bei Janis und Madeleine goldrichtig. Er stammt aus Lettland, sie ist Französin. Während ihres Studiums haben sie sich in Deutschland kennengelernt, doch ihre gemeinsame Sprache ist Englisch. Nach vier Jahren Fernbeziehung zwischen Bordeaux und Riga wohnen sie seit zwei Monaten endlich am selben Ort – in Berlin. Heute wollen sie Freunde von Madeleine in Hamburg besuchen. Mit an Bord sitzt Giorgio. Er stammt aus Mailand, macht einen Deutschkurs in Berlin und will das Wochenende in Hamburg bei einer Freundin verbringen. Deshalb hat er sich auf Janis’ Inserat bei der Mitfahrzentrale gemeldet.
Giorgio studiert Geschichte in Mailand, aber hat jetzt Semesterferien. Seit er vor ein paar Jahren ein Wochenende in Berlin verbracht hat, ist er von dieser Stadt fasziniert. Also beschloss er, für einen Monat dorthin zu ziehen, um Deutsch zu lernen. Heute ist Freitag. Direkt nach der Deutschstunde trifft er Janis und Madeleine. Kaum sitzt er auf der Rückbank, zieht er schon sein Deutsch-Übungsbuch aus der Tasche. Er will seine Hausaufgaben für Montag machen, dann hat er das ganze Wochenende Ruhe.
Giorgio hat einen Lückentext vor sich. Er soll die richtigen Perfektformen von Verben einsetzen. Bildet man das Perfekt nun mit ›sein‹ oder ›haben‹? Die Übung ist in eine kleine Geschichte eingebettet, die die jungen deutschen Studenten Peter, Maria und Johannes erleben. So ist das ganze Buch aufgebaut. Mal kochen die drei, mal schauen sie fern, dann spielen sie Fußball. Dieses Mal steht Kino auf dem Programm.
Giorgio liest den ersten unvollständigen Satz. Mehrmals. ›Peter, Maria und Johannes ____ ins Kino _______ (gehen)‹, steht dort. Er überlegt. Ihm ist klar, dass er das Perfekt von ›gehen‹ bilden muss, aber heißt es nun ›sind gegangen‹ oder ›haben gegangen‹? Hmm. Jedes einzelne deutsche Verb muss er sich eintrichtern. Spontan fällt ihm das Perfekt im Französischen ein. War da nicht irgendeine Regel mit Verben der
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