Testament liegt im Handschuhfach: Unterwegs mit der Mitfahrzentrale (German Edition)
Bewegung, bei denen man ›sein‹ benutzen muss? Vielleicht ist es im Deutschen genauso. Also entscheidet er sich für ›sind‹. Recht hat er. Der nächste Satz lautet: ›Sie _____ um 20 Uhr an der Kasse ______ (sich verabreden).‹ Nach der Logik von vorhin müsste es dieses Mal ›haben‹ heißen. Er kritzelt ›haben‹ und ›sich verabredet‹ in den Lückentext. Wieder richtig. Giorgio hat’s drauf.
Interessiert dreht sich Madeleine vom Beifahrersitz um. Auch sie besucht gerade einen Deutschkurs, um sich irgendwann mit Janis auf Deutsch unterhalten zu können. »Was machst du da?«, fragt sie den Mitfahrer auf Englisch. Lächelnd erzählt er ihr, dass er seine Hausaufgaben für den Deutschkurs macht. »Worum geht es in der Übung?«, fragt Madeleine. In ihrem Deutschkurs benutzt sie das gleiche Übungsbuch. »Ich muss das Perfekt bilden«, antwortet Giorgio. »Das finde ich nicht so schwer wie die blöden Artikel vor den Substantiven. Das Perfekt funktioniert wie im Französischen«, sagt Madeleine. Hat Giorgio doch recht gehabt. »Hast du Lust, dass wir die Übung gemeinsam machen?« Warum nicht? Madeleine scheint nett zu sein.
Erst ist der Lückentext dran. Dann eine Übersetzung, dann wieder ein Lückentext. Und jedes Mal erleben Peter, Maria und Johannes ein neues, spannendes Abenteuer. Eifrig machen Giorgio und Madeleine eine Übung nach der nächsten, obwohl das logistisch nicht ganz einfach ist: Damit beide gleichzeitig ins Übungsbuch schauen können, muss sie sich permanent nach hinten umdrehen und Giorgio sich ständig nach vorne beugen.
Derweil sitzt Janis am Steuer und fährt. Amüsiert beobachtet er die beiden und hört bei der Deutschstunde zu. Er selbst hat die Sprache in der Schule gelernt, noch heute spricht er sehr gut Deutsch. Die bescheuerten Übungsbücher funktionieren doch in jeder Fremdsprache gleich, denkt er. Bloß, dass die Protagonisten im Englischen Peter, Paul und Mary heißen und auf Französisch Jean, Françoise und Etienne. Jedes Mal dieselben schwachsinnigen Geschichten.
Da war sein Deutschunterricht in Lettland doch viel interessanter. 1996 – das waren noch Zeiten damals. Nicht Peter, Maria und Johannes waren da die Helden, sondern die Mädels von Tic, Tac, Toe! Richtig, Lee, Jazzy und Ricky rockten damals nicht nur die deutschen Charts, sondern auch den Deutschunterricht in einem Rigaer Gymnasium. Janis’ Deutschlehrer brachte die Texte jedes Hits der Mädelsband mit, und die Schüler mussten dann übersetzen. So lernten sie nicht nur Grammatik, sondern vor allem auch deutsche Umgangssprache.
Janis lächelt, als er an den Unterricht denkt. Damals fand er Tic Tac Toe richtig klasse, heute sind sie ihm zu langweilig. Doch ein paar Texte kann er immer noch auswendig. »Verpiss’ Dich«, sagt Janis plötzlich laut vor sich hin. »Ich weiß genau, ich vermiss Dich.« Madeleine schaut ihn verständnislos an. »Was hast du gesagt? War das Deutsch?« Janis lacht. Aber klar, nur lernt man so was an keiner Sprachschule.
»Das ist echtes Deutsch, wie es auf den Straßen gesprochen wird«, erklärt Janis auf Englisch. Nicht so ein gestelztes Hochdeutsch wie in den Übungsbüchern. »Wollt ihr echtes Deutsch lernen?« Madeleine und Giorgio nicken, Janis freut sich. »Also gut, aber mein Unterricht ist ganz anders als bei euch in der Sprachschule, okay?« Die beiden nicken. Giorgio und Madeleine sind gespannt. »Wir lernen Deutsch wie in Lettland.«
Stolz erzählt Janis wie das an seiner Schule lief. »Verpiss Dich«, sagt Janis laut und schmunzelt. »Kann mir einer sagen, was das heißt?« Seine Schüler schütteln den Kopf. Das habe sie vorhin schon wissen wollen, merkt Madeleine an. »So heißt ein Lied der Band.« Janis macht es spannend, er will noch nicht verraten, was die zwei Wörter bedeuten. Er hat richtig Spaß an seinem Job als Deutschlehrer. »›Verpiss Dich‹ bedeutet dasselbe wie ›Fuck off‹.« Madeleine und Giorgio grinsen. Kein Zweifel, in Lettland ist der Deutschunterricht cooler.
Dann beginnt Janis hinterm Steuer plötzlich zu rappen. »Einsam geh ich durch die Straßen. Durch den Regen. Durch die Nacht. Warum hast du mich verlassen? Warum hast du das gemacht?« Mit großen Augen schaut Madeleine ihren Freund an. Seit vier Jahren sind sie ein Paar, aber dass er einen auf deutschen Hip-Hopper machen kann, wusste sie noch nicht. Janis rappt weiter, er hat richtig Spaß. Irgendwann kommt er zum Ende der Strophe: »Mensch, du laberst doch nur rum.
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