Testobjekt Roter Adler
glaubte er, nochmals eine Gnadenfrist von etwa vierundzwanzig Stunden gewonnen zu haben.
Die ersten beiden Tage hatte er um sein Leben gebettelt und mich angefleht, den Richtern, die seine Beweggründe zu den Massenmorden in keiner Weise verstanden hätten, eine Begnadigung abzuringen. Er hatte versucht, wenigstens mich von der wissenschaftlichen Notwendigkeit seiner Untaten zu überzeugen.
Ich hatte abgelehnt, dagegen aber von ihm die volle Wahrheit gefordert. Er hatte sich in der Tat an die Wahrheit gehalten. Er war intelligent genug, um zu wissen, daß Beschönigungen irgendwelcher Art zwecklos waren. Ihm konnte nur noch die Begnadigung helfen, die aber auf Grund der europäischen Gesetze in diesem Falle ausgeschlossen war.
Eine meiner Fragen hatte er jedoch falsch beantwortet. Das war gestern gewesen, am 3. Juni.
»Dr. Van Haetlin«, sprach ich ihn an, »warum behaupten Sie, sich mit Professor Bulmers geduzt zu haben?«
Er schaute mich erneut fassungslos an. Sein gutgeschnittenes, männlich schönes Gesicht mit dem ausgeprägten Kinngrübchen spannte sich. Er hatte längst bemerkt, daß ich jede unwahre Aussage spätestens am nächsten Tage widerlegen konnte. Das führte er verständlicherweise auf die exakten Recherchen der GWA zurück. Er hatte keinen Verdacht geschöpft und ahnte nicht, daß er einem Telepathen gegenübersaß, der ihn tatsächlich besser kannte als er sich selbst. Er versuchte immer noch, sich selbst zu täuschen, sich eine Hoffnung vorzugaukeln, die sich niemals bewahrheiten konnte. Reling würde ihn mit Einverständnis der Europäer fraglos auf Henderwon-Island hinrichten lassen; zwar nicht mit dem Fallbeil, sondern von einem militärischen Exekutionskommando der GWA.
»Geduzt?« stammelte er. »Ich … habe ich behauptet, ich …?«
»Ja«, unterbrach ich ihn. »Das haben Sie behauptet. Es entspricht aber nicht den Tatsachen. Sie haben Professor Dr. Jerome A. Bulmers bis zu Ihrer Entlassung aus dem Atlantis-Stützpunkt mit ›Sie‹ angesprochen. Van Haetlin, Tricks dieser Art nützen Ihnen nichts! Oder glauben Sie ernsthaft, Ihre Richter würden sich wegen einer angeblichen Duzfreundschaft mit Ihrem Ausbildungsleiter zu einer Änderung des Urteils hinreißen lassen? Sie wollten auf die Psychotour reisen, nicht?«
Er schwieg und starrte auf seine Hände. Seit einigen Tagen knetete er ständig die Finger. Das hatte er früher nicht getan.
Wir wußten überhaupt alles, was er vor seiner Verhaftung unternommen hatte. Sein Lebensweg war praktisch bis zu dem Augenblick zurückverfolgt worden, da er in einer englischen Klinik das Licht der Welt erblickte. Er war trotz seines holländischen Namens Bürger des EURO-Staates England. Das enthob mich der zusätzlichen Belastung, die holländische Sprache erlernen zu müssen. Er verstand die Muttersprache seines Vaters kaum. Die wenigen von ihm beherrschten Begriffe hatte ich mir angeeignet.
Ich konnte ihn nun in jeder Beziehung einwandfrei kopieren. Das war der Grund, warum mir Reling vor einer Stunde die Anweisung gegeben hatte, mit diesem Verhör die Prozedur zu beenden. Wenn ich wollte, konnte ich ihm sogar die Wahrheit über den achten Mann sagen. Van Haetlin würde es niemand mehr mitteilen können.
Ich scheute mich aber, ihm in dieser Form die bevorstehende Hinrichtung bekanntzugeben. Er war viel zu intelligent und feinfühlig, um aus einer solchen Information nicht das für ihn Unausbleibliche abzuleiten.
»Schön«, gestand er mutlos werdend ein. »Ich habe es versucht. Heutzutage läßt man jeden Gewalttäter, Kriminellen und Triebverbrecher laufen, nur weil
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