Teufel in High Heels
Anblick von Vivians Durchwahl zeigte ich mittlerweile eine Pawlow’sche Reaktion: Mein Magen krampfte sich zusammen, und mein Herz begann zu wummern wie ein voll aufgedrehter Bass aus einem Cabrio in South Central.
» Claire?! «, blaffte sie.
»Ich bin hier, Vivian«, sagte ich und hielt den Antwortknopf gedrückt.
»Lulu sagt, SIE meinen, wir sollten das Manuskript über diesen Teenagerzuhälter nicht nehmen.«
»Ja, das stimmt«, sagte ich langsam. »Ich kann mir nicht vorstellen, auch nur einen Cent dafür zu bezahlen.« Darin erzählte ein Sechzehnjähriger, wie er ein paar Mädchen aus seiner Highschoolklasse - von denen manche erst dreizehn waren - dazu gebracht hatte, ihren Körper zu verkaufen, und
es war einfach nur schrecklich. Hätte dahinter die Absicht gestanden, Eltern oder Teenager aufzuklären, wie es zu solch einer extremen Entwicklung kommen konnte - das wäre etwas anderes gewesen. Doch der Autor bereute ganz offensichtlich nichts von dem, was er getan hatte, und er wollte seine Leser lediglich aufgeilen. Es war schweinisch, ohne die geringste positive Einschränkung.
» Wie faszinierend. Sagen Sie mir, Claire: Sind Sie geistig zurückgeblieben oder nur sehr, sehr dumm?« Im Hintergrund hörte ich ein unterdrücktes Kichern. Lulu.
»Weder noch«, sagte ich schlicht und zwang mich, nicht auf ihren Köder anzubeißen. »Ich halte es einfach für absoluten Schrott.«
»Nun, die eine hält es für Schrott, die andere für einen Bestseller. Lulu hat sich entschlossen, das Projekt zu übernehmen. Sie und ich sehen beide enormes kommerzielles Potenzial darin, vielleicht lässt es sich ja auch fürs Fernsehen verfilmen. Das ist die Sorte Einfühlungsvermögen, auf die ich bei einem Lektor aus bin.«
Ich wusste haargenau, warum diese Unterhaltung via Sprechanlage stattfand: Vivian wollte so viele Mithörer wie möglich haben. Eigentlich wunderte es mich, dass sie noch nie in Erwägung gezogen hatte, einen Pranger im Büro aufzustellen, um ihre Angestellten dem allgemeinen Spott preiszugeben. Die Personalabteilung würde ihr auch das vermutlich durchgehen lassen, nachdem Grant Books derzeit Platz eins, zwei und drei der Bestsellerliste der New York Times besetzt hielt.
»Ich verstehe, Vivian«, sagte ich, aber die Sprechanlage war schon tot.
Ich sah auf die winzige Uhr unten rechts auf meinem Computerbildschirm. Noch nicht mal eins. Die friedlichen
Stunden, die ich zu Hause in Iowa erlebt hatte, waren nur noch eine ferne Erinnerung.
In der vergangenen Stunde waren 42 neue E-Mail-Nachrichten für mich eingegangen. Ich bestellte eine Pizza bei dem Feinkostladen im Erdgeschoss und richtete mich auf einen langen Nachmittag ein.
Im Umsehen war es auf einmal fast Mitternacht. Nach Feierabend, ohne die ständigen Störungen und Anfragen, hatte ich das Arbeitspensum vom Wochenende wieder aufgeholt. Ich musste zwar zu Hause noch ein paar Stunden ein Manuskript lektorieren, aber das war nicht schlimm. Was hätte ich außer schlafen sonst schon tun sollen? Randall war immer noch mit seinem Vertragsabschluss zugange und würde die ganze Nacht im Büro hocken. Bevor ich das Gleiche tat, machte ich es mir doch lieber mit meinem Laptop auf der Couch gemütlich.
Ich warf die leere Pizzaschachtel von mittags in den Müll und schaltete den Computer aus. Dann huschte im Flur plötzlich ein rotblonder Schopf vorbei.
Die Gestalt blieb stehen - und ich erkannte Vivian. Mein Körper verkrampfte sich. Oh nein. Eine weitere Attacke von ihr war wirklich das Letzte, was ich jetzt brauchen konnte.
»Noch hier, Claire?« Sie stand in der Tür.
»M-hm. Hatte noch das eine oder andere zu erledigen. Sie sind aber auch spät dran«, sagte ich in der Hoffnung, das Gespräch möge bald ein Ende haben.
»Tja, Simon ist heute Abend bei Inseminator zwei«, sagte sie in gelangweiltem Ton. »Deshalb hatte ich’s nicht besonders eilig, in ein leeres Penthouse zurückzukommen.« Es
überraschte mich, dass Vivian andeutungsweise von Einsamkeitsgefühlen sprach - oder überhaupt von irgendwelchen menschlichen Regungen. Ich sah zu ihr hin. In ihrem klassischen, nach dem langen Bürotag etwas verknitterten Kostüm sah sie noch winziger aus als sonst.
Wie wird aus einem menschlichen Lebewesen eine Vivian Grant? , fragte ich mich. Sie konnte doch nicht schon immer so eine brutale, ekelhafte, wutschäumende Tyrannin gewesen sein. Immerhin hatte sie zwei Söhne. Söhne, mit deren anatomischer Ausstattung sie vor jedem protzte, der
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