Teufel - Thriller
Jeder für sich und keiner für alle, lautete die Devise. Die fliehenden deutschen Wehrmachtsverbände, die den Russen an manchen Orten noch erbitterten Widerstand leisteten, wurden immer kleiner oder lösten sich nach und nach auf.
Die deutsche Wehrmacht war am Ende ihres Weges angelangt. Wer nicht in die Hände der russischen Truppen fallen wollte, der musste laufen, um sein Leben rennen, immer weiter westwärts, den Alliierten entgegen. Oder er endete in Sibirien, in den Arbeits- und Vernichtungslagern der Sowjets, die Rache nahmen für den Krieg und die Zerstörung und das Leid, die der Krieg seit 1940 über sie gebracht hatte.
Wie durch ein Wunder war der Bahnhof der kleinen Stadt, ein Eisenbahnknotenpunkt südlich von Prag auf der Strecke nach Wien, noch relativ unversehrt geblieben, und der Zug, der nun bereits seit zwei Tagen auf einem der Abstellgleise stand, hätte sofort weiterfahren sollen. Wenn nur die Lokomotive nicht vor vierundzwanzig Stunden von einem Oberst der Wehrmacht requiriert worden wäre, um einen überfüllten Truppentransport westwärts in Richtung der Dritten US Army zu ziehen.
Oberleutnant Gustav Richter stand in seiner fleckigen und verschwitzten Uniform auf dem verlassenen Bahnsteig des Provinzbahnhofs, der noch in den letzten Jahren der k. u.k Monarchie gebaut worden war und von einer längst untergegangenen Pracht kündete. Nun zogen Rauchschwaden über die Verschubgleise, Flammen loderten an allen Ecken und Enden, die Luft roch nach Tod und verbrannter Erde.
Richter verzog angewidert das Gesicht. Er war ausgelaugt wie alle, kam von der Ostfront, hatte die Schlacht um Charkow geschlagen, die Stadt einmal erobert und einmal verloren und dann den langen, gnadenlosen Rückzug nach Westen mitgemacht. Jetzt war er am Ende, genauso wie der Krieg, den er vergebens geführt hatte. Seine Illusionen und Hoffnungen waren auf den Schlachtfeldern geblieben, seine Freundin Hannelore war schon vor langer Zeit mit einem Spekulanten und Kriegsgewinnler davongelaufen, dem es gelungen war, sich vor der Mobilmachung zu drücken, und der »an der Heimatfront kämpfte«. Richter wurde schlecht, wenn er nur daran dachte.
Auch die Briefe an seine Eltern waren seit 1943 unbeantwortet geblieben, so als habe er sie ins Nirgendwo geschickt. Was erwartete ihn, wenn er je nach Hause kommen sollte? Gab es noch ein Zuhause? Langsam spürte Richter, wie ihm der Boden unter seinen Füßen entglitt. Die Schlachten waren geschlagen und verloren. Gab es ein Leben nach dem Armageddon? Zu viele Fragen, und er wusste keine Antworten mehr. Vielleicht war im Nachkriegsdeutschland kein Platz für Verlierer.
Vielleicht war es einfach besser zu sterben.
Er hatte einen schalen Geschmack im Mund, als er nachdenklich die wenigen Waggons betrachtete, aus denen der kurze Zug vor ihm bestand. Bis hierher waren sie zu Fuß und in einigen Lkws gekommen. Ohne Benzin waren sie hier gestrandet, und der Himmel hatte ihnen den Zug geschickt. Oder doch nicht?
Den Schluss bildeten vier geschundene Güterwagen der Reichsbahn, deren Beplankung bereits große Lücken aufwies und den Blick auf die Ladung freigab: Koffer, Habseligkeiten von Vertriebenen, einige Kulturgüter aus evakuierten Schlössern, Munition und ein paar Kisten mit Waffen, die bald niemand mehr brauchen würde. Dann folgte ein alter Personenzugwaggon, der seine besseren Zeiten schon lange wieder vergessen hatte. Luftangriffe von gierigen alliierten Tieffliegern hatten kaum Fensterscheiben intakt gelassen, der kalte Frühlingswind pfiff durch die Abteile, die zum provisorischen Lazarett umfunktioniert worden waren. Stöhnen und vereinzelte Schreie drangen aus dem Waggon, immer wieder unterbrochen vom Kreischen der einschlagenden Projektile der russischen Raketenwerfer.
Die Hölle ist hier und jetzt, dachte Richter. Nur der Teufel ist schon weg, vorausgegangen, irgendwohin. Sie würden einsam sterben, einfach verscharrt werden entlang der Gleise in dieser Kleinstadt, und niemand würde nach ihnen suchen. Wozu auch? Sie waren die verlorene Generation. Sie hatten sich selbst verloren.
Der vorderste Teil des Zugs wurde von einem bemerkenswert neuen Güterwaggon gebildet, der fest verschlossen war und von zwei SS-Oberscharführern mit umgehängter MP42 bewacht wurde, die neben den Gleisen auf und ab patrouillierten. Dieser Waggon war es, der Richter Sorgen bereitete. Die Gesichter der SS-Leute waren grimmig, blass und unergründlich. Vor kaum 24 Stunden hatten sie gemeinsam
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