Teufeliaden: Erzählungen (German Edition)
andere gibt’s ja nicht.«
»Dann lesen Sie gar keine. Wissen Sie, ich habe in meiner Klinik dreißig Fälle beobachtet. Und was glauben Sie? Patienten, die keine Zeitung lesen, fühlen sich ausgezeichnet. Diejenigen aber, die ich gezwungen habe, die ›Prawda‹ zu lesen, haben abgenommen.«
»Hm«, brummte der Gebissene interessiert, rosig von Suppe und Wodka.
»Mehr noch. Der Kniereflex war bei ihnen vermindert, der Appetit miserabel und die Seelenverfassung niedergedrückt.«
»So was …«
»Jawohl. Aber was mache ich da? Ich rede ja selber von der Medizin. Essen wir lieber.«
Der Professor lehnte sich zurück und läutete, und in der kirschroten Portiere erschien Sina. Der Hund bekam ein dickes, blasses Stück Stör, der ihm nicht schmeckte, und gleich danach eine Scheibe blutiges Roastbeef. Nachdem er es verputzt hatte, merkte er plötzlich, daß er müde war und kein Essen mehr sehen konnte. Seltsames Gefühl, dachte er und klappte die schwergewordenen Lider zu, meine Augen möchten keine Nahrung mehr sehen. Aber nach dem Essen zu rauchen ist eine Dummheit.
Das Eßzimmer füllte sich mit unangenehmem blauem Zigarrenqualm. Der Hund döste, den Kopf auf den Vorderpfoten.
»Der Saint-Julien ist ein anständiger Wein«, hörte er im Halbschlaf, »aber man kriegt ihn nirgends.«
Ein von der Decke und den Teppichen gedämpfter Choral drang von oben und von der Seite herein.
Der Professor läutete, und Sina erschien.
»Sina, was hat das zu bedeuten?«
»Schon wieder eine Mieterversammlung, Filipp Filippowitsch«, antwortete sie.
»Schon wieder!« rief der Professor traurig. »Na, jetzt geht’s los, jetzt ist das Kalabuchow-Haus verloren. Man müßte abreisen, fragt sich bloß wohin. Alles wird gehen wie geschmiert. Zuerst gibt’s jeden Abend Gesang, dann frieren im Klo die Rohre ein, dann platzt der Kessel der Dampfheizung und so weiter. Unser Haus ist hin.«
»Der Professor grämt sich«, bemerkte Sina lächelnd und trug einen Stoß Teller hinaus.
»Wie sollte ich mich nicht grämen?« schrie der Professor. »Was war das einmal für ein Haus, verstehen Sie doch!«
»Sie sehen die Dinge zu düster, Filipp Filippowitsch«, widersprach der schöne Gebissene. »Die haben sich jetzt sehr geändert.«
»Mein Bester, Sie kennen mich doch, oder nicht? Ich bin ein Mann der Fakten, der Beobachtung, und ein Feind unbegründeter Hypothesen. Das weiß man nicht nur in Rußland, sondern auch in Europa. Wenn ich etwas sage, liegt dem ein Fakt zugrunde, aus dem ich einen Schluß ziehe. Hier haben Sie einen Fakt: Garderobenhaken und Galoschenständer in unserem Haus.«
»Interessant …«
Galoschen, Quatsch. Die machen nicht glücklich, dachte der Hund. Auf die hervorragende Persönlichkeit kommt es an.
»Schauen Sie, der Galoschenständer. Ich wohne seit 1903 in diesem Haus. In der ganzen Zeit bis April 1917 ist es nicht ein einziges Mal vorgekommen, ich unterstreiche mit Rotstift, nicht ein einziges Mal, daß aus unserm Hausflur unten bei nicht verschlossener Tür auch nur ein Paar Galoschen verschwunden wäre. Bedenken Sie, wir haben hier zwölf Wohnungen, und ich halte Sprechstunde ab. Im April 1917 verschwanden eines schönen Tages sämtliche Galoschen, darunter zwei Paar von mir, drei Stöcke, ein Mantel und der Samowar des Portiers. Seitdem hat der Galoschenständer seine Existenz eingestellt. Mein Bester, ich rede schon gar nicht von der Dampfheizung. Nein. Von mir aus, wenn wir schon soziale Revolution haben, braucht nicht mehr geheizt zu werden. Wenn ich mal Zeit habe, werde ich das Gehirn erforschen und beweisen, daß dieses ganze soziale Durcheinander schlicht und einfach eine Fieberphantasie ist … Aber ich frage: Warum gehen alle, seit die ganze Geschichte angefangen hat, in schmutzigen Galoschen und Filzstiefeln über die Marmortreppe? Warum muß man die Galoschen immer noch unter Verschluß halten? Und womöglich einen Soldaten hinstellen, damit sie nicht gestohlen werden? Warum ist der Teppichläufer von der Vordertreppe verschwunden? Verbietet etwa Karl Marx, auf der Treppe einen Teppichläufer liegen zu haben? Heißt es etwa irgendwo bei Karl Marx, der zweite Aufgang des Kalabuchow-Hauses in der Pretschistenka müsse mit Brettern vernagelt werden und man müsse um das Haus herum und über den Hinterhof gehen? Wer braucht das? Die unterdrückten Neger? Oder die portugiesischen Arbeiter? Warum läßt ein Proletarier nicht seine Galoschen unten, statt den Marmor zu beschmutzen?«
»Aber
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