Teufelsbande: Ein neuer Fall für Julia Durant (Knaur TB) (German Edition)
in emotionaler Anspannung, nonverbal kommuniziert. Doch Julia durfte nicht riskieren, das Gespräch in seiner jetzigen Dynamik auszubremsen, denn wer konnte schon wissen, ob der Mitteilungsdrang Alexander Kühnes von dauerhafter Natur war.
»Ich habe mich nicht bei ihr gemeldet«, widersprach der Arzt. »Das heißt, ich wollte es schon. Aber dann hat sie mich zuerst angerufen.«
»Können Sie sich erklären, warum? Ich hatte es so verstanden, dass zwischen Ihnen seit Ihrer Scheidung kein enger Kontakt mehr bestanden hat.«
»Das stimmt auch. Aber für Marion hat sich etwas Entscheidendes geändert.«
»Nämlich?« Julia Durant hatte durchaus eine Ahnung, aber sie wollte, dass Kühne es aussprach.
»Marion hat jetzt niemanden mehr«, antwortete dieser prompt. »Keinen, bei dem sie sich ausheulen kann, wenn Lutz sie misshandelt hat. Im Übrigen nur, um danach wieder zu ihm zu kriechen. Sie erinnern sich, was ich vorhin gesagt habe? Das ist diese typische Ambivalenz. Sie hat eine depressive Phase, vermute ich?«
Statt zu antworten, stellte Julia eine Gegenfrage: »Und Sie möchten diese Beschützerrolle übernehmen?«
»Ich habe ihr zugehört, weiter nichts«, erklang es kühl. »Sie wollten informiert werden, das habe ich getan. Aber ich lasse mir daraus keinen Vorwurf machen.«
»Das lag auch nicht in meiner Absicht. Ich frage Sie ohne jede Wertung: Haben Sie denn vor, künftig eine Rolle im Leben Ihrer Exfrau zu spielen?«
»Darüber habe ich noch nicht nachgedacht«, blockte Dr. Kühne ab, und Julia Durant begriff, dass das Gespräch für ihn damit zu Ende war. Sie verabschiedete sich, bedankte sich in aller Form für die sachdienlichen Hinweise, die der Arzt ihr zur Verfügung gestellt hatte, doch dieser gab sich nun distanziert und wortkarg. Nachdem die Kommissarin aufgelegt hatte, griff sie sich ihren Papierblock, auf dem sie sich Notizen gemacht hatte, und ergänzte einige Punkte.
War es plausibel, dass man nach Jahren der Funkstille plötzlich Kontakt zu seinem Exmann suchte?
Womöglich schon, schloss die Kommissarin, wenngleich ihr auf Anhieb drei Personen in den Sinn schossen, bei denen sie sich wohl eher die Hand abgehackt hätte, als noch einmal ihre Nummer zu wählen. Na ja, vielleicht nicht ganz so krass, dachte sie weiter, aber es gab in ihrer Vergangenheit nun mal keinen Mann, der nicht ohne Grund aus ihrem Leben verschwunden war. Solche Kontakte beendet man endgültig, bestätigte sie sich im Stillen, aber bei den Kühnes lagen die Dinge ja anders.
Lutz Wehner – Dr. Kühne hatte ihn als eifersüchtigen, besitzergreifenden Guru dargestellt – war ein Krimineller, ein berüchtigter Bandenchef. Es war also durchaus plausibel, dass er einen Nebenbuhler bedrohte, bis dieser klein beigab. Ich muss diesen Wehner unbedingt kennenlernen, schloss Julia, aber nicht mehr heute. Also sprang sie zum nächsten Punkt, der sie beschäftigte: Welche Ziele verfolgte Dr. Kühne bei seiner geschiedenen Frau? Waren diese Motive stark genug, um ihn zum Mörder werden zu lassen? Nein. Wehner hat Grabowski getötet, und der Mord an Kohlberger ist eine Gemeinschaftstat. Das traute die Kommissarin dem Frauenarzt keinesfalls zu. Dann wohl eher andersherum, nämlich dass Wehner Marions Bruder ermordet hatte. Er beseitigt den designierten Boss des Motorradclubs und inszeniert es als Auftakt eines Bandenkriegs, dachte Julia weiter, denn nur so wurde eine Hypothese daraus, die nicht vollkommen hanebüchen war. Dann tötet er Grabowski, streut das Gerücht, dass es sich um Vergeltung handelte, und lässt die sprichwörtlichen Hunde aufeinander losgehen. Doch es geschieht nichts, keine weiteren Toten, kein Bandenkrieg, nichts. Stattdessen vergnügt er sich mit Marion, denn niemand steht ihm mehr im Weg. Doch je länger die Kommissarin darüber nachdachte, umso klarer wurde ihr, dass diese Theorie bei weitem nicht so schlüssig war, wie sie sein sollte. Vor allem, weil der ominöse V-Mann Brandts ja bereits in diese Richtung gedrängt hatte.
Julia Durants Blicke suchten die große runde Wanduhr, die noch immer wie ein Mahnmal über der Küchentür hing, obwohl sie sie längst hatte abhängen wollen. Über das aluminiumfarbene Ziffernblatt bewegten sich dicke schwarze Zeiger, ähnlich denen einer Bahnhofsuhr. Die Uhr war ein Relikt, einer der ersten eigenen Einrichtungsgegenstände, die Julia sich, nachdem sie flügge geworden war, für ihre Wohnung gekauft hatte. Da hing sie nun, in ihrem verstaubten Design, das vor
Weitere Kostenlose Bücher