Teufelsberg: Roman (German Edition)
sagte Falko, »was machst du denn hier?«
Erst jetzt fiel ihm auf, dass sie einen Mantel trug.
»Weiß nicht.« Sie lächelte unsicher. »Einen Affen kaufen vielleicht? Und du?«
Falko zögerte mit der Antwort. Sylvia hatte sich geschminkt, unter dem Make-up waren die Blutergüsse nur noch schwache Schatten. Der zartblaue Lidstrich betonte die bernsteinbraune Farbe ihrer Augen. Ihr Körper war kräftig, aber ihre Bewegungen leicht. Falko hatte sie immer nur im Jogginganzug und mit ungekämmten Haaren gesehen, jetzt verstand er, warum Xaver sie schön fand.
»Das mit dem Affen ist doch Quatsch«, sagte er.
Er durchschritt den Vorhof, der sich nach außen hin weitete, um als helle, breite Schleuse in die Nacht zu führen. Sylvia lief neben ihm her.
»Mein Mann ist nicht zum Vortrag gekommen. Dabei hat er es versprochen.«
»Er hat sich bestimmt nur verspätet.«
»Als ich klein war, habe ich mir einen Affen gewünscht. Und ich wusste, der Wunsch würde irgendwann aufhören.«
»Jeder Wunsch hört irgendwann auf«, sagte Falko.
»Aber ich muss den Affen trotzdem kaufen. Das hast du doch selbst gesagt.«
»Ja, ich habe viel Unsinn gesagt. Die ganze Cardea ist Unsinn.«
»Aber mir haben die Therapien schon geholfen. Auch die Medikamente.«
»Ich habe mal was über Vögel gelesen«, sagte Falko. »Wenn die flügge werden und ungeschickt in der Gegend rumflattern, denkt man doch immer, die üben das Fliegen. Tun sie aber nicht. Die Jungvögel, die man in dieser Phase einsperrt, können am Ende genauso fliegen wie ihre Geschwister, ohne es vorher geübt zu haben. Die Fähigkeit ist ihnen angeboren, verstehst du, und sie entfalten sie erst zu einem bestimmten Zeitpunkt. Ich glaube, mit den psychischen Krankheiten ist es genauso. Sie hören zu einem bestimmten Zeitpunkt wieder auf. Ob du bis dahin teure Therapien machst oder an die Wand glotzt, ist völlig egal. Hauptsache, du überlebst so lange.«
Sie kamen an den Übertragungswagen vorbei. Inforadio hatte sich dort aufgestellt, auch der Deutschlandfunk und der Fernsehsender Phoenix. Die Tür dieses Wagens stand offen, der Techniker rauchte. Er hatte die Kopfhörer abgesetzt und den Lautsprecher eingeschaltet. Es ertönte Applaus, dann war Vosskamps Stimme zu hören.
»Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie herzlich zur philosophischen Sonntagsrunde. In der Vergangenheit konnten wir international renommierte Kollegen aus der Medizin, der Politik, der Soziologie, der Kunstwelt und der Philosophie für uns gewinnen, und ich hoffe, Sie verzeihen mir, dass Sie heute mit mir vorliebnehmen müssen. Sie alle kennen wohl den Witz: Überall in Deutschland baut man neue Irrenhäuser, eins in München, eins in Hamburg, und Berlin wird überdacht.«
Das Publikum lachte, einige klatschten.
»Dennoch hoffe ich, mit meinen vorsichtigen Überlegungen die Debatte um das, was wir die Psyche nennen, die Seele oder auch: das Innerste, nicht nur beleben zu können, sondern vielleicht sogar einem Paradigmenwechsel zuzuführen.«
»Vosskamp ist einfach wunderbar«, bemerkte Sylvia. »Ich hätte dableiben sollen.«
»In meinen langen Jahren als Psychiater«, fuhr Vosskamp fort, »bin ich zu der Erkenntnis gelangt, dass jeder Patient nicht nur eine psychische Krankheit hat, sondern zugleich ein philosophisches Problem. Das macht die Arbeit von uns Psychiatern so spannend. Ich hoffe, Sie halten mich nicht für verwegen, wenn ich so weit gehe, zu behaupten: Jeder Patient ist ein philosophisches Problem.«
Falko ging weiter, Sylvia folgte ihm. Hinter ihnen wurde Vosskamps Stimme aus dem Lautsprecher leiser.
»Da fällt mir ein«, sagte Falko, »ich glaube, ich habe deinen Mann gesehen. Er kam mit den Nachzüglern. Du warst in dem Moment mit Horst Vierer beschäftigt.«
»Ach?«
»Doch, ganz sicher.«
Sylvia sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an. »Du brauchst mich nicht anzulügen. Wenn du abhauen willst, musst du bis viertel vor sieben warten. Weil dann Pförtnerwechsel ist. Dann bleibt das Tor für fünf Minuten offen.«
»Oh.«
»Geh nur«, sagte Sylvia.
»Und du?«
»Ich suche meinen Mann.«
Sie beschleunigte ihren Schritt, verschwand in der Dunkelheit Richtung Parkplatz.
Bald darauf erreichte auch Falko den Rand des Gebäudes. Vor ihm lag die Anton-Delbrück-Straße, die Laternen, die sie säumten, warfen ihren bleichen Schein in die Baumkronen. Das Wetter war schlechter geworden, ein kalter Schneeregen fiel, und
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