Teufelsberg: Roman (German Edition)
Schmerz wird das Leben erfahrbar. Der Aufschrei am Kreuz sagt uns, dass Christus im tiefsten Schmerz zu sich selbst fand. Dass Gott ihn verließ, weil Christus selbst zu Gott wurde. In dieser Geschichte zeigt sich die Transformationskraft des Schmerzes.«
»Ach, ich weiß nicht«, brummte Vosskamp. »Nur weil etwas stark empfunden wird, ist es doch darum nicht weniger banal.«
Sie stritten noch eine Weile weiter, ohne Ergebnis. Vosskamp betrachtete die Bronzen. Die Mäuler der Tiger waren voller Staub, und plötzlich fiel ihm ein, dass er als Kind immer Mitleid mit Skulpturen hatte, die in einer anstrengenden Position verharren mussten. Irgendwann kam er auf die Idee, dass die Skulpturen in einer anderen Welt lebten, in der sie sich bewegen konnten, in der sie aßen, spielten und schliefen. Sie hatten sich nur einmal kurz in seine Welt verirrt und dort eine dreidimensionale Momentaufnahme hinterlassen, von der sie gar nichts ahnten.
Zurück in seinem Büro, kurz vor der Einzelstunde mit Walpersdorf, las Vosskamp dessen Akte. Er überlegte, wie er den aufgeregten Patienten für eine Schreibtherapie gewinnen könnte, und suchte nach einem Thema, das Walpersdorf interessant fände.
Die Anamnese hatte die Thewes durchgeführt. Schwierige Kindheit auf einem bayerischen Dorf, Hochbegabung, Studium der Geologie, Promotion, Forschungsstipendien, APL an der LMU. Ausbruch der phasenhaften bipolaren Störung mit vierzig, ungewöhnlich spät, wahrscheinlich aber nur spät erkannt.
Vosskamp las weiter. Dann stutzte er. Walpersdorf hatte während einer ausklingenden manischen Phase innerhalb von elf Wochen eine Dissertation geschrieben, auf der geschlossenen Station des Isar-Amper-Klinikums Haar, »Zur Steinmetapher in der Philosophie«, summa cum laude, Freud-Preis, Foucault-Preis, Curtius-Preis, Märker-Preis und ein Ruf nach Berlin.
Vosskamp ließ die Akte sinken. Dann las er sie noch einmal von vorne durch. Er lehnte sich zurück.
Er fühlte sich auf einmal so wie damals, als er auf den Turm der verfallenen Radarstation geklettert war, kurz vor dem Baubeginn der Cardea, nachdem er erfahren hatte, dass er Chefarzt der Psychiatrie werden würde. Er hatte das Gelände durch ein Loch im Zaun betreten, das hinter einer Sperrholzplatte verborgen war. Er zog sich an einem Seil einen erdigen Hügel hinauf. In den alten Hallen lagen Flaschen und Steine, und wo Licht durchs zerstörte Dach drang, wuchsen Nesseln und kleine Bäume. Die Turmwände aus Plane waren zerfetzt und flatterten im Wind. Vosskamp stieg bis unter die Kuppel, unter der man früher die Radarschirme verborgen hatte. Das Gestell aus weißen Waben erinnerte an ein leeres Wespennest. Für einen Moment war er damals glücklich gewesen, er hatte nur das Getöse der Luft gehört.
Auch jetzt war das Getöse wieder da, als er das Fenster öffnete und hinaussah. Es war nicht so laut wie damals, die Luft schien zu wissen, dass sie über einer Klinik nicht so viel Lärm machen durfte. Er spürte den Wind in seinem Gesicht, er roch die Bäume und den Sand der Landschaft, und er wusste, dass er eine gute Lösung gefunden hatte, wie immer in seinem Leben. Es war nicht mal unmoralisch, sondern eine Win-Win-Situation. Er würde einen freien Vortrag über die philosophische Dynamik von Krankheiten halten und Walpersdorf als Fallbeispiel vorstellen. Mit dessen Zitaten und dem Material von Wolff ergäbe das eine wunderbare Rede. Er machte sich Stichworte.
Walpersdorf gab ihm den Text über die Seele am Samstag, in der Visite, einen Ausdruck von fünfzehn Din-A4-Seiten. Er wirkte überdreht und zappelte auf seinem Stuhl herum, die Augen waren aufgerissen.
»Und hier ist die Expertise«, sagte er und drückte Vosskamp einen zweiten Text in die Hand. »›Über die Erfassung von Massenbewegungen und Deformationen am Berliner Teufelsberg durch differenziell-interferometrische Auswertungen multitemporaler SAR-Daten‹. Die Expertise müssen Sie als Erstes lesen. Dann können wir endlich evakuieren.«
»Ach, Herr Kollege«, seufzte Vosskamp. »Sie sollten doch fokussieren. Ich habe mir Sorgen gemacht. Sie hätten sich doch verletzen können, als Sie am Mittwoch die Scheibe zum Dienstzimmer zerschlugen. Seien Sie froh, dass Sie überhaupt wieder auf die A zurückdurften. So, lassen Sie mich mal sehen, ob die Schreibtherapie bei Ihnen anschlägt. Auf Ihren Aufsatz über die Seele bin ich schon die ganze Zeit neugierig.«
Nervös begann er zu lesen. Walpersdorf sprang auf.
»Was
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