Teufelsberg: Roman (German Edition)
wollen Sie dauernd mit der Seele?«, schrie er. »Sie müssen die Expertise lesen! Sie müssen uns retten! Was spielt denn die Seele für eine Rolle, wenn der reale Untergrund uns wegrutscht?«
»Ach, Herr Kollege«, sagte Vosskamp traurig. »Ich wollte Ihnen helfen, und jetzt stehen wir wieder ganz am Anfang.«
Er hätte Walpersdorf gern erzählt, dass er Teile des Textes im Vortrag zitieren würde, und ihm Mut gemacht, weiter zu schreiben. Aber Walpersdorf war nicht mehr zugänglich. Vosskamp setzte ihn auf Haldol. Außerdem verordnete er Olanzapin, als Depotspritze.
Nach der Visite las er das Manuskript genauer durch. Schon die Überschrift verriet ihm, dass er einen außergewöhnlichen Text vor sich hatte. Nur die Flüchtigkeitsfehler wiesen auf einen manischen Autor hin. Eigentlich schade, dachte Vosskamp, wenn der Text nicht so, wie er ist, publiziert wird. Bei den wirklich großen Ideen ist es doch egal, wer sie hatte. Hauptsache, sie finden ihren Weg in die Welt. Einen Moment lang zögerte er noch. Dann gab er sich einen Ruck und rief Gerlach von der Pressestelle an.
»Ich habe den Titel für meinen Vortrag«, sagte er.
»Endlich«, antwortete Gerlach, »wir sitzen hier wie auf Kohlen. Die Broschüre muss bis zwölf in den Druck.«
»Als Schreibender wissen Sie ja selbst, wie das ist mit der Inspiration. Die kommt nicht immer auf Bestellung.«
»Ja. Und wie lautet der Titel?«
»Das Innerste. Zur konzentrischen Metapher der Selbstfindung«, sagte Vosskamp. »Den Text mailt Ihnen meine Sekretärin morgen durch. Dann können Sie ihn auf die Homepage stellen, sobald ich den Vortrag gehalten habe.«
Er beauftragte Frau Hoffmann, den Text von Walpersdorf abzutippen und die Rechtschreibfehler zu korrigieren. Und Neef trug er auf, vor seiner Nachtschicht die Zitate und Literaturangaben zu überprüfen.
»Da können Sie jetzt was gutmachen«, sagte Vosskamp, »und die Rüge ziehe ich auch zurück.«
Am Ende des Tages blätterte er die Expertise flüchtig durch. Die Tabellen und Formeln erschienen ihm wirr, und im Abstract stand, dass die Cardea zusammenbrechen würde, sobald es taute.
»Diese Maniker«, murmelte er.
Er eröffnete den Vortrag am Sonntag mit dem Witz über Berlin. Seine ersten Worte kamen etwas heiser aus dem Hals, und anfangs irritierte ihn der Kameramann von Phoenix, der dicht vor ihm hin- und herging und aufnahm. Aber als das Publikum lachte, wurde Vosskamps Stimme fester, und während er die ersten Absätze des Textes ablas, merkte er, dass er ihn fast auswendig konnte; er hatte die halbe Nacht geprobt.
»Gerade wir Psychiater und Psychologen, aber vielleicht alle Menschen, glauben an das Konzept der Selbstfindung und an die konzentrische Metapher, die mit diesem Konzept verbunden ist. Was aber soll dieses Innerste sein, das wir finden wollen, wann hat es sich generiert und warum? Und was ist es, das gerade den modernen Menschen zur Erkundung des Innersten drängt? Welche Begriffe stehen ihm dafür zur Verfügung? Und was macht er mit ihnen?«
Vosskamp ließ den Blick durch das Publikum schweifen. In der ersten Reihe saß der Vorstand der Freud-Tinbergen-Gesellschaft und der Vorstand von Primal Prevention, daneben die künftigen Beiratsmitglieder der Anton-Delbrück-Klinik, Marinette, McKinley und Küngler. Auch andere Wissenschaftler waren da, Kollegen aus Berlin, Heidelberg und Frankfurt. Sie saßen als Gruppe zusammen und hörten interessiert zu. Etwas weiter hinten erkannte Vosskamp den berühmten Philosophen Edgar Kalderhut, der »Nogurana« herausgab, die »Zeitschrift für Philosophie und Zeitgeist«, und der eine eigene Fernsehtalkshow hatte. Neben ihm saßen drei psychiatrische Privatpatienten, die Hofstedt, die Fechner und die Kaleschke. Und natürlich waren alle Mitarbeiter der Cardea da, außerdem Schriftsteller, Künstler und Politiker und ein paar bekannte Fernsehmoderatoren und Journalisten. Und ganz hinten saßen Vosskamps Frau und seine Eltern, beide klein vom Alter und mit weißen Haaren.
»Bekanntlich entspringt das Konzept der Selbstfindung der Moderne. Mit ihr kam der Durchbruch, das neue Paradigma. Anstelle des Suchens und Findens von Schätzen in der Ferne trat ihre industrielle Herstellbarkeit in der Nähe.«
Vosskamp war stolz auf seinen Patienten Walpersdorf. Schriftlich formulierte der zudem schlüssiger als in seinen oft aufgeregten Reden. Er argumentierte bei der Frage nach dem, was die Seele sei, konsequent ökonomisch. Dieser Ansatz war Vosskamp neu,
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