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Teufelsberg: Roman (German Edition)

Teufelsberg: Roman (German Edition)

Titel: Teufelsberg: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sophie Dannenberg
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und er freute sich, als Erster darauf gestoßen zu sein.
    »Weil die industrielle Revolution den Menschen in den Fabriken brauchte und den Entdeckertrieb unterband, musste das Fernweh sublimiert werden. Diese Aufgabe kam der Romantik zu. Sie erfand die Seele als Sehnsuchtsort, der jetzt nicht mehr außen lag, sondern innen, als blaue Blume, als Unendlichkeit.«
    Die Gesichter des Publikums hingen still im Halbdunkel. Vosskamp spürte die gespannte Aufmerksamkeit. Er bedauerte, Walpersdorf auf Olanzapin gesetzt zu haben. Einen Text wie diesen würde er jetzt nicht mehr schreiben. Aber was ist wichtiger, dachte Vosskamp, ein lebenswertes Leben oder ein lesenswerter Text?
    »Wie die Romantik ist auch die Psychotherapie ein Produkt ökonomischer Notwendigkeiten. Auch sie kastriert die Ferne und das Fremde, indem sie eine Entdeckungsreise nach innen simuliert. Statt die Wirklichkeit zu gestalten, schauen wir träge in uns hinein, und die erhoffte Entdeckung besteht darin, dem Unbekannten auszuweichen und uns mit festgelegten Begriffen vermeintlich neu zu erfinden. Der Patient ist kein Abenteurer, er ist ein Tourist auf ausgetretenen Pfaden, und wir Therapeuten sind es auch. Die eigentliche, verborgene gesellschaftliche Funktion der Psychotherapie liegt nicht darin, uns heil und gesund und klug zu machen. Sie liegt darin, uns zu domestizieren. Aber das Ich verschwindet, indem wir es entfesseln. Das Ich wird immer öffentlicher, es verliert sein Geheimnis und gleicht sich an. Indem wir uns entfesseln, entfesseln wir das Nichts.«
    Er richtete sich am Rednerpult auf und ließ seine Worte eine Weile wirken. Aus dem Publikum kam ungläubiges Murmeln, sogar Ausrufe waren zu hören. Der Text hätte auch von mir sein können, dachte Vosskamp, ich sollte mir mehr Zeit nehmen und selbst wieder forschen. Er lächelte und holte zum finalen Schlag aus.
    »In der Behauptung einer Existenz des Innersten offenbart sich das Phlegma der Moderne. Aber das Innerste, meine Damen und Herren, das Innerste – gibt es nicht mehr. Und doch ist das Nichts die letzte Hoffnung. Das letzte Rätsel, das uns noch bleibt.«
    Noch bevor er seinen Vortrag beendet hatte, wurde ihm klar, dass ihn diese Rede berühmt machen würde. Er sah, wie die Journalisten mitschrieben, er hörte die Kamera vor sich zoomen. Der Applaus nach der Rede hielt lange an, und in den Gesichtern der wissenschaftlichen Kollegen erkannte Vosskamp Respekt, sogar Neid. Er blickte über das Publikum hinweg durch die Fenster in die Nacht. Für einen Moment hatte er das Gefühl, dass es seine Worte waren, welche die Scheiben aus Glasolex nach außen gewölbt hatten.
    Er eröffnete die Diskussion. Als Erstes meldete sich der Philosoph Edgar Kalderhut zu Wort. Während ihm das Mikrofon durch die Reihen gereicht wurde, tippte er auf seinem iPad herum, dann stand er auf. Er war für alle auch von Weitem an seinem Backenbart erkennbar; sein blasses, etwas spitzes Gesicht wirkte wie ausgeschält. Die Kamera richtete sich auf ihn.
    »Das war ein verwegener Vortrag, lieber Herr Kollege Vosskamp«, sagte er. Seine Stimme klang gepresst.
    Das Publikum klatschte noch einmal.
    »Wie ich gerade gesehen habe, steht der Wortlaut des Vortrages bereits auf der Homepage der Cardea«, fuhr er fort. »Das hätten Sie unterlassen können.«
    Vosskamp lachte. »War ich Ihnen zu kritisch? Damit habe ich gerechnet. Ein Paradigmenwechsel, wie ich ihn vorschlage, muss zu Protesten führen, sonst wäre er keiner.«
    »Nein, der Vortrag war brillant«, sagte Kalderhut sehr langsam und betonte jedes Wort. »Aber er wurde schon letzten Sonntag publiziert. In ›Nogurana‹, der Zeitschrift für Philosophie und Zeitgeist. Ich weiß das zufällig, weil ich nicht nur der Herausgeber von ›Nogurana‹, sondern auch der Autor dieses Aufsatzes bin. Und ich muss Sie loben, Sie haben ihn hervorragend vorgelesen.«
    Aus dem Publikum kamen irritierte Lacher. Die Fotografen drückten ab, die Journalisten schrieben mit.
    Vosskamp spürte sein Gesicht als schwere, fremde Schicht auf dem Knochen. Er suchte nach einem Gefühl. Da war nichts.
    Kalderhut fuhr mit frostiger Stimme fort: »Allerdings muss ich Ihnen zu Ihrem Titel gratulieren. ›Das Innerste. Zur konzentrischen Metapher der Selbstfindung‹ – schick. Bei mir hatte der Aufsatz nur die bescheidene Überschrift ›Die Seele‹.«
    Das Publikum raunte. Vosskamp hob seine rechte Hand und wedelte mit ihr in der Luft herum. Ihm war übel, und seine Beine begannen zu

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