Teufelsberg: Roman (German Edition)
Wissenschaft ist mehr als Zahlenakrobatik. Sie schenkt uns die Möglichkeit, das Ungefähre genau zu fassen, für einen kurzen, atemberaubenden Moment, und dabei schmerzlich zu ahnen, dass auch das Genaue nur ein ungefährer Ausschnitt der Wirklichkeit bleibt. Wahre Wissenschaft zielt immer auf Transzendenz, nicht auf Präzision. Das gilt vor allem für die Psychiatrie.«
»Das ist unfair«, erwiderte Wolff. »Ich habe bei meiner Untersuchung das Ungefähre sehr wohl berücksichtigt.«
»So? Und was ist das für Sie?«
»Die Standardabweichung. Ach, lassen wir das, wir verstehen uns nicht.«
Vosskamp schüttelte den Kopf, stand auf und reichte Wolff einen Umschlag. »Hier haben Sie Ihre fünftausend Euro. Aber bitte gehen Sie jetzt.«
Der junge Mann nahm den Umschlag, steckte ihn in seinen Rucksack, und ohne sich noch einmal umzudrehen, verließ er den Raum. Die Mappe mit dem Vortrag blieb liegen.
Vosskamp stellte sich ans Fenster und schaute hinaus. Die Stadt in der diesigen Ferne war eine verwischte Kohlezeichnung.
»Scheiße«, murmelte er.
Während der Sitzung mit Annika Fechner wippte er nervös in seinem Sessel. Er wusste nicht, was er machen sollte. Er überlegte, ob er die philosophische Sonntagsrunde wegen Krankheit vertagen sollte, verwarf den Gedanken aber wieder. Seine Verhandlung mit Primal Prevention stand kurz vor dem Abschluss. Die Gesellschaft wollte ihn zum Chef der psychiatrischen Privatklinik, der Anton-Delbrück-Klinik machen, und er sollte den internationalen Beirat zusammenstellen, er durfte jetzt keine Schwäche zeigen. Vor der Fachwelt würde er sich mit einer Absage der Rede ohnehin blamieren, und seine Aufnahme in die Freud-Tinbergen-Gesellschaft wäre gefährdet. Einen Moment lang fantasierte er, was passieren würde, wenn er einen PowerPoint-Vortrag mit Statistiken hielte. Er lachte bitter auf.
»Sie sehen ja wirklich alles«, sagte die Fechner plötzlich, nachdem sie minutenlang geschwiegen hatte.
»Das ist mein Beruf«, antwortete Vosskamp.
Er wusste nicht, was sie meinte. Während er sich bemühte, zuzuhören und Antworten zu geben, dachte er die ganze Zeit: Was mache ich bloß? Er hatte seit Jahren nicht geforscht, geschweige denn publiziert. Ihm fehlte das Material, um in drei Tagen einen brillanten Vortrag zu schreiben. Ganz kurz überlegte er sogar, Cornelia um Hilfe zu bitten. Am Gymnasium hatte sie zwei Klassen übersprungen, und ihre beiden Lyrikbände hatten im Feuilleton für Aufsehen gesorgt. Aber das war alles viele Jahre her.
Das Mittagessen brachte ihm seine Sekretärin aus dem Restaurant ins Büro. Alle Ärzte aßen unten im Cardea-Restaurant, wenn sie Zeit hatten, denn das Patientenessen von Gustomat war ungenießbar.
»Vergessen Sie Ihr Gespräch mit Lausanne nicht«, sagte Frau Hoffmann, als sie ihm den Teller mit dem gegrillten Tintenfisch, Rosmarinkartoffeln und Mangold hinstellte.
»Gut, dass Sie mich erinnern«, sagte Vosskamp. »Wie hieß der Kollege noch mal?«
»Professor Dr. Dr. François Marinette. Er hat den Lehrstuhl für Psychosomatik an der Universität Lausanne. Hat in Medizin und Philosophie promoviert und über ›Psychische Architekturen‹ habilitiert.«
»Psychische Architekturen? Was ist das für ein hochgestochener Quatsch?«
Frau Hoffmann zuckte die Schultern und zog die Mundwinkel nach unten.
»Danke jedenfalls«, sagte Vosskamp.
Er aß hastig, erst beim letzten Bissen bemerkte er den feinen Duft von Zitrone, Olivenöl und Feuerholz, den das Essen verströmte. Er wischte sich den Mund mit der Serviette ab, dann ging er zum Schreibtisch und ließ sich durchstellen. Es tutete.
»Marinette?«, meldete sich eine klangvolle Männerstimme.
»Hier Vosskamp aus Berlin. Ich grüße Sie, Herr Kollege!«
»Grüezi.«
»Wir haben uns ja schon per E-Mail verständigt, aber Sie hatten noch ein paar Fragen?«
»Ich habe noch nicht ganz verstanden, was das für eine Klinik werden soll, die mich im Beirat haben will«, sagte Marinette mit französischem Akzent, in fließendem Deutsch. »Wird das eine Universitätsklinik? Ein Militärkrankenhaus?«
»Nein«, lachte Vosskamp, »die Anton-Delbrück-Klinik wird eine psychiatrische Privatklinik von Primal Prevention, für die wir international anerkannte Experten als geistige Unterstützer suchen. Primal Prevention betreibt die Cardea-Kette, wie Sie sicher wissen.«
»Hm, eine Privatklinik«, brummte Marinette. »Keine sichere Sache in diesen Zeiten.«
»Unser Geschäftsmodell hat sich
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