Teufelsberg: Roman (German Edition)
und der Stationsarzt Neef informierte ihn darüber, dass Annika Fechner einen Suizidversuch begangen hatte, mit zwei Längsschnitten am linken Unterarm, sieben Zentimeter an der Arteria Radialis und fünf an der Ulnaris.
»Es war knapp«, sagte Neef. »Sie ist jetzt auf der Chirurgie beim Nähen.«
»Bringen Sie sie auf die B«, sagte Vosskamp. »Geben Sie ihr Diazepam und sorgen Sie für eine engmaschige Überwachung.«
Er sagte alle Termine ab und setzte sich an seinen Vortrag. Er versuchte, das Zahlenmaterial, das Wolff ihm geliefert hatte, in einen halbwegs brauchbaren Text zu übersetzen und durch Anmerkungen zu ergänzen. Er googelte »Seele«, es gab 39 Millionen Einträge. Er fand Gedichte und karmische Fallstudien, quantenphysikalische Theorien, Singworkshops und Missbrauchsforen, Restaurants, Pilateskurse und PR-Berater und den unvermeidlichen Wikipedia-Artikel, der leider nur knapp auf die neuere philosophische Diskussion einging. Während der Recherche fühlte Vosskamp sich beobachtet. Nicht von einem Menschen, schon gar nicht von einem Gott. Es war der eigene Blick, den er im Nacken spürte, als säße er hier und gleichzeitig hinter sich. Der Blick war weder neugierig noch strafend, er war einfach da. Vosskamp war müde, und er hatte Kopfschmerzen, und draußen drehte der Kran seinen Arm und baute die Anton-Delbrück-Klinik. Die Betonwände schwebten hell durch die Luft wie ausgeschnittene Himmelsteile.
Am späten Nachmittag versuchte Annika Fechner, sich mit einem Bademantelgürtel zu strangulieren. Danach randalierte sie. Neef ließ sie fixieren und gab ihr Haldol.
Am Abend kam der Mond aus den Wolken, groß und verwischt, ein Wasserfleck auf Nessel, und Vosskamp hatte noch immer keine Idee.
In der Chefarztvisite am Mittwoch ergab sich nichts Neues. Depression, Demenz, Panik, Zwang, Wahn und Manie, das Übliche. Vosskamp schaute bei Langenfeld vorbei. Als er an dessen Tür klopfte, streifte sein Blick das Bild von Horst Vierer. Die Cardea hatte es vor drei Monaten für zweitausend Euro erworben, zu viel, fand Vosskamp, für einen zeitgenössischen Maler, der über Berlin hinaus nicht bekannt war.
»Guten Morgen«, begrüßte ihn Langenfeld. »Brauchen Sie Supervision?«
»Eigentlich nicht«, antwortete Vosskamp lachend und setzte sich auf den Besucherstuhl vor Langenfelds Schreibtisch. »Ich habe nur ein Problem mit der Seele.«
Langenfelds Schreibtisch war voll mit japanischen Antiquitäten, bronzenen, fauchenden Tigern. Dazwischen stapelten sich Bücher und Papiere, und überall lagen die Werbekugelschreiber der Cardea herum.
»Ja?« Langenfeld legte das Kinn auf die gefalteten Hände.
»Ich weiß gar nicht, was die Seele ist«, begann Vosskamp. »Man hält sie ja gemeinhin für etwas Tiefes, Geheimnisvolles. Vor allem die leidende Seele. Warum eigentlich? Symptome sind doch kein Ausdruck von Sinn, sondern von Krankheit. Was soll Tiefe also sein? Und wie kommt sie zustande?«
»Durch die Konfrontation mit dem Schmerz«, sagte Langenfeld.
»Aber Schmerz ist ein Warnsignal«, entgegnete Vosskamp. »Was wehtut, sollen wir vermeiden, das hat die Natur sich so ausgedacht. Der Sinn ist da, wo das Leben ist. Der Schmerz ist da, wo der Tod ist. Wenn es einen evolutionären Zweck hätte, Schmerz nicht nur zu ertragen, sondern sogar freiwillig zu suchen, würde er nicht wehtun. Er wäre verlockend.«
»Seien Sie doch nicht so biologistisch.«
»Seien Sie nicht so psychoanalytisch.«
»Das bin ich keineswegs«, sagte Langenfeld. »Die Psychoanalyse ist ja ohnehin ein Missverständnis. Schon für Freud war die Psyche ein anatomisches Modell, in dem Sexualität zum Surrogat für die wirklichen Probleme wurde. Aber wenigstens wollte Freud durch den Körper mit der Seele sprechen. Heute sprechen die Psychiater nur noch zum Körper. Der Rekurs auf die Pharmaka ist ein Rekurs auf ein naturwissenschaftliches Menschenbild. Es schließt die Seele aus. Wir sind vom Sprechen zum Schweigen zurückgekehrt. Das ist die Tragödie der Psychiatrie.«
»Tragödie, dass ich nicht lache!«, rief Vosskamp. »Ihr Psychologen, ihr haltet euch alle für den Wanderer über dem Nebelmeer. Ihr steht auf dem Felsen und schaut in die dunklen Seelen eurer Patienten. Aber in den dunklen Seelen ist nichts zu holen. Da ist nur Schmerz, der basale Ausdruck von Sinnlosigkeit.«
»Schmerz ist das mächtigste Gefühl, über das der Mensch verfügt«, sagte Langenfeld und ordnete die Kugelschreiber zu einer Reihe. »Erst im
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