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Teufelsberg: Roman (German Edition)

Teufelsberg: Roman (German Edition)

Titel: Teufelsberg: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sophie Dannenberg
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in der Schlange und ging nur mit Trippelschritten vorwärts. Er trug eine beige Strickjacke mit Mustern aus braunen Quadraten und Streifen.
    »Eugen, bitte«, sagte er.
    »Eugen, Bulle. Mein Liebling vom dreiundfünfzigsten Revier.«
    »Das Schweinegeschnetzelte ist gleich weg«, sagte Eugen mit Berliner Akzent, »und das Putenschnitzel auch.«
    »Kann man sein Essen hier nicht vorbestellen?«, fragte Annika.
    Auf der 5A musste sie jede Woche einen entsprechenden Bogen ausfüllen. Sie bekamen zwar dort das Gleiche zu essen wie hier, aber auf Porzellantellern mit goldenem Emblem. Außerdem wurde den Privatpatienten das Essen aufs Zimmer geliefert.
    Eugen schüttelte den Kopf.
    »Weißt du nicht, wo du bist, junge Frau? Ab und zu schmeißt hier einer sein Essen an die Wand. Was glaubst du, warum die lackiert ist? Frau Baran grapscht den anderen ständig auf die Teller und klaut das Fleisch für ihren kurdischen Vater, den die Jitem vor zwei Jahren totgefoltert hat. Und letzten Sonntag hat Lou die Gitarre in den Kuchenteller gedroschen.«
    »Aber die hatte ja eh keine Saiten«, sagte die wilde Kapusta.
    Als sie die Essensausgabe erreichten, war nur noch vegetarische Pizza übrig, die Maiskörner waren vertrocknet, der Käse braun und der Boden durchweicht. Eine Küchenhilfe mit hochgezogenen Schultern klatschte die Pizzastücke auf die Teller. Wenn einer der Patienten ihr zu nahe kam, kreischte sie: »Weg da!«
    An den Tischen wurde geschaufelt und geschmatzt. Einige Langzeitpatienten mit Spätdyskinesien zitterten so sehr, dass sie ihr Essen verschütteten. Annika dachte an die Eltern. Der Vater war Krankenhauspfarrer im Wilhelm Augusta in Ratzeburg, vor dem Essen betete er.
    Komm, Herr Jesus, und sei unser Gast
    Und segne, was du uns bescheret hast!
    Damals hatte sich Annika angewöhnt, beim Beten die Luft anzuhalten, weil Jesus im Docht der Kerzen lebte. Und wenn er, wie der Vater sagte, zu Gast war, dann war irgendwo eine unsichtbare Kerze. Annika wollte sie nicht aus Versehen ausblasen.
    »Schmeckt’s nicht?«, fragte Eugen.
    Sie schob ihren Teller beiseite und weinte.
    »Junge Frau«, sagte Eugen, »du wirst höchstens zwei Tage brauchen, bis dir das alles egal ist. Glaube mir, der Mensch ist anpassungsfähig.«
    Die wilde Kapusta streichelte Annikas Arm. Die Säulen draußen in der Halle warfen lange, zarte Schatten auf die Tische. Annika verirrte sich in einem Wald aus Glas.
    Die Schwester gab ihr den Bademantel, nachdem sie die Säume nach Klingen abgetastet hatte. Es war ein Mantel aus der 5A, rosa, flauschig und mit dem Emblem der Cardea, jeder Privatpatient bekam wöchentlich einen neuen.
    »Lassen Sie den nicht liegen, sonst ist er weg«, sagte die Schwester.
    Das Badezimmer war wie auf der 5A aus grün lackiertem Edelstahl, aber die Wände waren schmierig, und über den Boden zogen sich Schmutzspuren.
    Annika behielt ihre Kleidung und die Stiefel an, als sie in die Duschkabine stieg. Sie zog den Gürtel des Bademantels ab und machte einen Henkersknoten hinein, legte die Schlinge um ihren Hals und band das Ende am Haltegriff der Dusche fest. Sie ließ ihre Beine nach vorne rutschen. Sie wartete auf den Drang zu atmen, aber er kam nicht. Sie sah die Wasserflecken an der Duschwand, lauter Inseln, eine sah sie sich genauer an. Die Insel war gläsern, mit gläsernen Tieren und Bäumen, sogar die Sonne war aus Glas, der Sand und das Meer und der Himmel. Je länger Annika hinsah, umso weicher wurde alles, und irgendwann war es kein Glas mehr, sondern Gel. Zuerst hatten die Geltropfen noch die Formen von Tieren und Pflanzen, dann zerflossen sie.
    Von fern kam etwas angerast, ein mondgroßes Loch. Annika hörte ein Brausen, dann Stimmen: »Ich krieg das nicht auf!« »Hochheben!« »Hier, nimm die Schere!«
    Die Insel versank, und hinter der letzten Gelschicht sah Annika verschwommen die Gesichter der Schwestern und Pfleger und das von Neef, dem Stationsarzt. Sie lag auf dem Bett. Neef schob ihr Coolpacks unter den Nacken und machte ein liebes Gesicht. Annika starrte auf sein bedrucktes T-Shirt, sie sah ein O und ein U, davor baumelte die Brille mit dem Magnetverschluss.
    »Frau Fechner, was machen Sie bloß«, sagte Neef.
    Annikas Zähne klapperten. Sie sprang auf, sie hörte sich schreien, ihr schmerzte die Kehle, es waren die Augen im Hals, die irgendwas sahen, sie wusste nicht, was es war. Die Schranktüren rasten auf sie zu, gegen den Kopf und gegen die Fäuste, die Bettkante flog ihr an den Fuß, dann

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