Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Teufelsberg: Roman (German Edition)

Teufelsberg: Roman (German Edition)

Titel: Teufelsberg: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sophie Dannenberg
Vom Netzwerk:
Berlin schaute, den Funkturm am Messezentrum und bei klarem Wetter den Fernsehturm am Alex, begann er, die Stadt zu hassen. Er ertrug die Wahrzeichen nicht, den Siegesengel, das Brandenburger Tor, den Reichstag, die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, die Mauerreste. Sogar von der Cardea mit ihren Bubble-Fenstern gab es schon Postkarten, man konnte sie unten am Klinikkiosk kaufen. Alles hatte er tausendmal gesehen, als Foto oder als Grafik auf irgendwelchen Zetteln und Prospekten, mal comicartig, mal kunstvoll, und natürlich auch in der Realität, und alles stand für dasselbe, Krieg und Teilung, Aufbau und Wiedervereinigung, alles war deutsche Geschichte, durchsetzt mit Clubs und Shops, bellenden Busfahrern, Baulücken und Hartzvierern.
    Aber Geschichte, dachte Xaver, war radioaktiv, sie strahlte Bedeutung ab, dabei zerfiel sie. Berlins Halbwertszeit war hoch, die Stadt war schon lange Blei, während alle so taten, als wäre sie noch Uran, und darum war Berlin so angestrengt und öde. Man konnte nur die flüchtige Bedeutung erfassen, aber nie den Kern der Geschichte, er löste sich auf, sobald die Deutungen begannen. Man konnte nur etwas verstehen, das niemals stattgefunden hatte und sich darum auch nicht veränderte.
    Ein Mann hatte nachts an die Scheibe geklopft, Xavers Mutter hatte zuerst das Fenster geöffnet, dann ihre Beine. Vielleicht war er zärtlich gewesen, vielleicht hatten sich die Schwielen seiner Hände im Stoff ihres Nachthemdes verhakt, vielleicht beides. Vielleicht gestand sie die Schwangerschaft zuerst der Mutter, während die den Weg mit dem Rechen fegte, in halbrunden Bögen, die sich überschnitten. Vielleicht gestand sie zuerst dem Vater, am Abend, als er vor dem Radio saß.
    Nichts war so, wie es sich die Thewes vorstellte, und wahrscheinlich nicht einmal so, wie Xavers Mutter selbst es sich vorstellte. Es zog keine Folgen nach sich, nicht einmal die seiner Existenz. Man konnte zwar, dachte er, den Ursprung seiner Existenz festlegen, nämlich die Zeugung, aber die Folge, sein Leben, war ständig in Bewegung, und sobald die Folge definiert war, hatte sie sich schon wieder verändert, während der Ursprung derselbe blieb, und so waren Ursprung und Wirkung nicht aufeinander bezogen und darum voneinander unabhängig. Darum hatte Xavers Leben weder was mit dem Fensterln zu tun noch mit Agatharied. Vielleicht war er niemals dort gewesen. Vielleicht gab es ihn gar nicht.
    Aber wenn er versuchte, das den Ärzten der Cardea zu erklären, verfielen sie in Maßregelungsschweigen, und wenn er deswegen wütend wurde, behandelten sie ihn wie einen Irren, und wenn er deswegen noch wütender wurde, behandelten sie ihn wie einen noch irreren Irren, weswegen er sich zusammennahm, solange er konnte. Irgendwann verlor er die Beherrschung, worauf das Maßregelungsschweigen folgte, worauf er noch mehr die Beherrschung verlor, worauf noch mehr Maßregelungsschweigen folgte. Mit diesen Kämpfen verging der Dezember und der halbe Januar.
    Aber seit Xaver gestern das Loch in der Erde gegraben hatte, war ihm egal, was die Ärzte von ihm hielten. Er nahm sich vor, die philosophischen Fragen beiseitezulassen und alles in naturwissenschaftlichen Begriffen zu erklären, und damit er ruhig blieb, ließ er sich vor der Chefarztvisite Lorazepam geben, ein Milligramm.
    Vosskamp erschien in einem Pulk aus Ärzten, Therapeuten und Pflegern, selbst der Stationsarzt Dr. Neef und Schwester Nina aus der Spätschicht waren dabei. Sie gähnten. Vosskamps Gesicht war kochschinkenfarben, das blonde Haar feucht zur Seite gekämmt. Sein Atem roch nach Pfefferminz. Unter dem Kittel trug er ein steifes, graues Hemd mit schwarzer Krawatte.
    »Guten Morgen!« Vosskamp setzte sich zu Xaver an den Tisch, während sich seine Kollegen im Halbkreis aufstellten.
    »Servus«, brummte Xaver.
    »Welcher Tag ist heute und wo sind Sie?«, fragte Vosskamp.
    »Mittwoch, der 19. Januar. Ich bin in der Cardea.«
    »Gut, orientiert sind Sie. Und wie geht es unserem Philosophen heute?«
    »Ich bin hauptsächlich Geologe«, sagte Xaver. »Petrologe, um genauer zu sein. Ich will Ihnen etwas erklären. Sie sollten wissen, dass ich Steine riechen kann.«
    »Petrologe also. Wir Psychiater untersuchen die Seele, und Sie die Steine. Ob die Unterschiede immer so groß sind?«
    Seine Kollegen lachten, Vosskamp beachtete sie nicht, und sie verstummten.
    »Sie wissen, warum Sie hier sind?«
    »Aber ja«, rief Xaver, »ich werde uns retten, uns alle. Es hat alles eine

Weitere Kostenlose Bücher