Teufelsberg: Roman (German Edition)
Hüfte wieder brach, aber da ging die Zimmertür auf und Friedrich stand dort in seinem weißen Leinennachthemd. Lotti wollte ihn fortschicken mit einem freundlichen Wort, wie jeden Abend, wenn er sich verirrte und seine Frau suchte, stattdessen brach sie in Schluchzen aus.
»Es war nicht die große Liebe, sondern es war Scham!«
Der alte Mann kam auf seinen nackten Füßen auf Lotti zu.
»Und er hat doch auf mich gewartet«, wimmerte Lotti, »wo immer er war.« Plötzlich schlang Friedrich die Arme um sie. »Pscht«, sagte er, »pscht …« Sie spürte zum ersten Mal im Leben die Brust eines anderen Mannes an ihrer, die seltsame Härte und Knochigkeit und die Vibrationen, die von dort aus tief in ihren Körper drangen, auf einmal war irgendwo ein Himmel, der durch einen zweiten Himmel stürzte. Sie dachte, vielleicht bin ich frei, und für einen Augenblick glaubte sie, Lippen zu spüren und einen zarten Atem zu schmecken. Es war Johann, der ihr nicht böse war, der nur sagte: »Du Aas’chen, du liebes.« Und sie waren in Mokischken, und inzwischen war Frühling, und sie hatten geheiratet, die Rapsfelder leuchteten gelb, der Fluss roch nach frischen Algen. Aber dann hörte Lotti die Stimme von Pfleger Ingo.
»Wie eklig ist das denn?«, brüllte er. »Könnt ihr euch nicht zusammenreißen? Rentnersex in meiner Schicht, ich halte es nicht aus! Bialla, ab ins Bett! Feierabend!«
Er riss den alten Mann am Arm und zerrte ihn raus, und Lotti hörte noch Friedrichs Stimme: »Es war nicht ihre Schuld«, dann fiel die gelbe Tür ins Schloss.
»Es tut mir leid«, stotterte Lotti. Aber ihr tat überhaupt nichts mehr leid, und sie begann zu lachen und gleichzeitig zu frieren, sie war nur ein Kreuz in der Landschaft, ohne Geschichte.
Der ferne Glanz
F riedrich Bialla mochte keine Schiffe. Sie taumelten in der Leere herum, außerhalb war nichts. Er hatte schon als Kind geahnt, dass die Abenteuer von Long John Silver und Jim Hawkins, von Ishmael und Ahab, von Kapitän Bontekoes Schiffsjungen und all den anderen nur Fantasien waren, Gegenentwürfe zu der Ödnis der Wasserfläche ringsum.
Als Elfjähriger hatte Friedrich einmal an der Reling eines Spreedampfers gestanden und auf die Wellen geschaut, und plötzlich war es ihm so vorgekommen, als gäbe es die Wellen nicht, als würde er sie nur sehen, weil sein gelangweiltes Auge Bewegung brauchte. Zugleich folgte diese Wellenbewegung dem Fluss seiner Regungen und Gedanken, und einen Moment lang fragte er sich, ob auch die anderen Ausflügler an der Reling seine Gedanken sehen konnten, dort auf dem Wasser, und ob er ihre wahrnehmen würde, wenn er ihren Blicken in die Leere folgte.
Damals begriff Friedrich, dass sich Menschen in der Langeweile offenbarten. Jeder Entzug von Reizen führte zu Wellen, die Friedrich verrieten, wen er vor sich hatte. Er lernte die Wellen zu lesen, er spürte, wann sie begannen, konnte warten, bis die Brandung kam.
Später, in seinen Verhören, fragte er selten, was die Menschen getan hatten. Lieber schwieg er. Die meisten begannen, sich zu erklären, nebenbei gestanden sie auch. Oft wusste Friedrich nicht, wohin mit den vielen Erklärungen. Es zählte ja nur das Geständnis. Aber für ihn waren die Taten der Menschen das Treibgut, das zufällig auf den Wellen schaukelte. Manche wurden schuldig, andere nicht, obwohl sich ihre Wellen ähnelten.
Seine Arbeit hatte auf den Schwarzmärkten begonnen, in Mitte, wo er Streifendienst hatte. Er ging durch die Straßen mit ihren zerplatzten Häusern und stellte sich vor, dass es Berlin irgendwo noch gab. Irgendwann würde er dorthin zurückkehren. Er musste nur eine Weile hier arbeiten, zwischen den rauen Rändern der Steine, bis die Wirklichkeit zurückkam. Darum nahm er alles leicht. Er hatte sein Fahndungsbuch dabei und hielt Ausschau nach Leuten, die Stehlgut verkauften, Radios, Schmuck, Bekleidung. Sie hatten es auf den Streusandkästen oder vor sich auf der Straße ausgebreitet. Jeder, den er festnahm, den er zu Fuß in die Dircksenstraße aufs Präsidium brachte, gab das Gleiche zu Protokoll: »Ich hatte Hunger.«
Erst mit der Zeit wurden aus einfachen Dieben raffinierte Betrüger, die man Kipper nannte. Sie tauchten auf den Schwarzmärkten auf und gaben vor, von der Kripo zu sein, um den Hehlern die Ware abzunehmen. Einen verfolgte Friedrich über den ganzen Alexanderplatz, der von Straßenbahnschienen durchfurcht war. Ein Schienenreiniger schlug den Flüchtenden mit dem Drahtbesen nieder. In
Weitere Kostenlose Bücher