Teufelsberg: Roman (German Edition)
»Ginko-Blättern«, veröffentlichten die Ehemaligen Gedichte und Berichte über Psychopharmaka. Die Zeitung, die aus ein paar zusammengehefteten DIN-A4-Seiten bestand, lag im Aufenthaltsraum aus, aber Sylvia hatte noch nicht gesehen, wie sie jemand durchblätterte.
Vor den Fahrstuhltüren traf sie auf Xaver. Er war gerade auf dem Weg in den Ausgang, aber als er Sylvia sah, zwängte er seinen sperrigen Körper in einen der bunten Kunststoffsessel.
»Grüß dich, Sylvia«, sagte er auf Bayerisch, »schnupperst du ein bisschen Akutluft?«
»Nein, ich beobachte die Leute.«
»Und?«
Xaver war konzentriert, sein Körper spannte sich an, sogar seine schwarzen Haare wirkten auf einmal gestrafft. Seine Klugheit steckte Sylvia an. Alles glättete sich in ihr.
»Die Gesichter der Langzeitpatienten ähneln sich«, sagte sie. »Ich sehe es fremden Leuten an, ob sie seit Jahren Neuroleptika nehmen.«
»Die Krankheit ist ihnen ins Gesicht geschrieben?«, fragte Xaver.
»Nein, nicht die Krankheit, die Behandlung. Diese Menschen haben grobe Gesichter. Aber es ist eine spezifische Vergröberung.«
»Du meinst die Abstumpfung?«
»Schlimmer«, sagte Sylvia. »Die Vergröberung hat keine Nebenbedeutung. Die Süchtigen schämen sich. Rohe Menschen sind stolz auf ihre Vergröberung, dumme unschuldig daran, und diese Nuancen prägen sich in ihre Züge ein. Bei psychiatrischen Langzeitpatienten fehlen die Nuancen.«
»Ich verstehe«, sagte Xaver, »in der Vergröberung der Gesichtszüge zeigt sich die Selbstentäußerung der Patienten von ihrem Leid.«
»Genau.«
»Aber zugleich«, fuhr Xaver fort, »gehen diese Menschen keine Allianz mit der Vergröberung ein. Die zusätzlichen Nuancen, von denen du sprachst, sind Signaturen der Kollaboration mit der Vergröberung. So gesehen ist die Nuancenfreiheit bei den Langzeitpatienten ein Zeugnis ihres Widerstandes. Man müsste vor ihnen den Hut ziehen.«
»Genau.«
»Und irgendwann sehen wir selbst so aus«, schloss Xaver. »Nur dein Arsch, liebe Sylvia, wird herrlich bleiben.«
Sie lächelte: »Du bist unmöglich.«
Xaver lächelte nicht zurück, seine Augen blieben ernst.
Als er gegangen war, betete sie. »Gib ihm Gesundheit«, flüsterte sie in ihre gefalteten Hände, als würde sie mit dem Küken sprechen, das im Hohlraum ihrer Hände gestorben war. Gleichzeitig konnte sie sich Xaver nicht als gesunden Menschen vorstellen, denn dann wäre er ohne Verzweiflung, ohne Ideen.
Aber der Wasserspender, der Wasserspender mit den Keimen ohne Engel. Bevor Sylvia die geschlossene Station betrat, füllte sie ihre Flasche, sie hatte einen weiten Weg vor sich. Die Patienten konnten am Empfangstresen für einen Euro eine Plastikflasche kaufen, die sie selbst am Automaten füllen mussten. Auch Sylvia trug eine Flasche bei sich. Viele Patienten von der B verloren ihre Flaschen schon am ersten Tag oder kauften sich keine, weil sie kein Geld hatten. Stattdessen benutzten sie Plastiktassen aus dem Speisesaal, die sie anschließend überall stehen ließen.
Die geschlossene Station lag hinter einer Panzerglastür, Sylvia klingelte. Ein Mann im Anzug, aber ohne Strümpfe, stand da und wartete. Ein Arzt kam heraus, er quetschte sich durch den Türspalt und gab acht, dass der Mann ohne Strümpfe nicht floh. Dann kamen die Pfleger und zogen den Mann fort. Erst danach ließ man Sylvia passieren.
Zuerst war es ihr peinlich, an der roten Lampe vorbei auf den Flur der B vorzudringen; sie fürchtete, von irgendwelchen Besuchern für eine Irre gehalten zu werden. Aber bald merkte sie, dass die Besucher nicht wissen wollten, in welcher Gesellschaft sich ihre kranken Angehörigen befanden, und darum niemanden anschauten. Und nicht nur sie, auch die Kranken selbst wollten nicht sehen, wo sie waren. Jeder hier war für den anderen dunkle Materie. Die dunkle Materie des Weltalls ist eine psychiatrische Anstalt, dachte Sylvia.
Durch die Scheibe des Dienstzimmers der B sah Sylvia auf dem Schreibtisch die gelben Briefe vom Amtsgericht mit den Unterbringungsbeschlüssen: »Wegen akuter Suizidgefahr muss der ratlos depressiv verstimmte Patient gegen seinen Willen auf der geschlossenen Station 5B der Cardea-Klinik verbleiben und dort ca. 4 Wochen lang medikamentös und psychotherapeutisch behandelt werden. Wegen Gefahr im Verzuge muss die vorläufige Unterbringungsmaßnahme daher im Wege einstweiliger Anordnung gemäß §§ 70 h, 69 f Abs. 1 S. 2 FGG getroffen werden.«
Sie hörte, wie die Schwestern mit
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