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Teufelsberg: Roman (German Edition)

Teufelsberg: Roman (German Edition)

Titel: Teufelsberg: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sophie Dannenberg
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Wandfetzen, Parkettfetzen, Garderobenfetzen, Faustfetzen, und zwischen den Fetzen erkannte sie Martin, der zur Tür hereinkam, mit der FAZ in der Hand.
    Sie fragte sich, warum sein Gesicht und die Zeitung so unbewegt in diesem Wirbel standen. Während sie das dumpfe Matschen der eigenen Schläge hörte, kam ihr der Gedanke, dass Martins Gesicht ihr so klar erkennbar blieb, weil es etwas bedeutete. Andererseits erkannte sie auch die Zeitung, und die bedeutete ihr nichts. Sein Gesicht war nur zufällig unbewegt, so zufällig wie die Zeitung, und die wirbelnden Fetzen ringsum waren nur zufällig wirbelnde Fetzen, es gab keinen Unterschied zwischen Bewegung und Stillstand. Es gab nur Bodenlosigkeit und keinen Grund, die Fäuste stillzuhalten. Sie musste lachen und gleichzeitig schreien, sie hörte sich selbst, das Geräusch war nicht menschlich. Und sie hörte Martin, der unvermittelt sagte: »Würdest du mir bitte aus der Zeitung vorlesen?«
    Als er das sagte, setzte der Schmerz ein. Die Augen, die Wangen, die Finger taten weh, und sie öffnete die Fäuste und verringerte die Schlagkraft.
    Die Zeitung hat eine Bedeutung, dachte sie, ich habe das richtig vorhergesehen.
    »Ich kann die Sphäre deiner Ohren wahrnehmen«, flüsterte Martin. »Ich weiß, dass du wieder da bist.«
    Sylvia wurde still.
    Er hatte sie damals ausgelacht, als sie ihm von ihrem Klassenkameraden erzählt hatte, dessen Ohren ein Rembrandt-Leuchten hatten. Alles andere an dem Klassenkameraden war gewöhnlich, die Pickel, der Stimmbruch, aber die Ohren umflorte etwas Sanftes, Gutes. Als Sylvia ihn Jahre später zufällig auf einem Konzert wiedersah, erkannte sie ihn sofort an den Ohren, die unter inzwischen schütteren Haaren hervorragten. Er saß vor ihr, in einem der schwebenden Ränge der Philharmonie, seine Ohren strahlten etwas Engelhaftes aus.
    Das Orchester spielte das Violinkonzert von Mendelssohn. Sylvia wartete auf den zweiten Satz, ihre Lieblingsstelle, das Fagott, das nur wenige Augenblicke klar blieb, und sie dachte darüber nach, ob es nicht in jeder Musik um diesen einen Augenblick ging, der einen glücklich machte. Das komplette Konzert hörte sie nur, weil sie sich im ersten Satz die ganze Zeit auf die Stelle mit dem Fagott freute, und im dritten Satz versuchte sie, einen Nachklang dieser Stelle zu entdecken, der sie darüber hinwegtrösten würde, dass der Augenblick vorbei war.
    Ihr alter Klassenkamerad hatte keine schönen Ohren, sie standen etwas ab, und die Ohrläppchen waren angewachsen, aber sie kamen ihr vor wie die Trägersubstanz von etwas Überirdischem. An Martin hatte sie nie ein Rembrandt-Leuchten wahrgenommen, obwohl sie ihn liebte. Als die Stelle mit dem Fagott kam, wünschte sie sich, auch Martin würde einem Menschen begegnen, der in der Lage war, sein Leuchten zu erkennen. Aber als die Stelle mit dem Fagott vorbei war, wurde ihr klar, dass sie das gar nicht ertrüge.
    Erst an dem Tag, an dem sie sich schlug, an dem Martin die Sphäre ihrer Ohren wahrnahm, begriff sie seine Liebe.
    »Komm, Sylvie«, sagte er. »Lies mir aus der Zeitung vor.«
    Sie gingen in den Salon, und das Vorlesen fiel ihr schwer, weil sie weinen musste. Sie wollte Martin berühren und küssen, sie wollte ihm vom Crazy Orcus erzählen, vom Lederschneider und von den Blutblasen, von den dicken traurigen Männern, von dem Küken und der Flucht nach Berlin, aber sie schämte sich zu sehr. Während sie weiter vorlas, warf der Quader sein Magnetfeld an, das neben ihren Gedanken auch die Stimme steuerte, Sylvia hörte einen metallischen Klang. Ihr Drang, sich erneut zu schlagen, nahm zu.
    »Ich kann nicht mehr«, sagte sie schließlich.
    Ihr Gesicht schmerzte. Sie ging in die Küche und nahm eine Aspirin. Martin folgte ihr nach einer Weile. Er sah sie an, dann schloss er die Augen. Dann sah er sie wieder an.
    »Ich bringe dich in die Cardea«, sagte er.
    »Zu diesem Vosskamp?«, fragte sie.
    »Ja. Er soll gut sein.«
    Sie packte ihre Reisetasche. Sie fuhren schweigend im Auto durch die Stadt. Sylvia presste die Hände seitwärts an den Sitz. Sie fürchtete, Martin erschreckt zu haben. Zugleich war sie wütend. Warum bin immer ich so selbstkritisch, er aber nie, dachte sie. Warum hat er meine Hände nicht festgehalten, als ich mich geschlagen habe?
    Sie sah die Cardea von Weitem über den Bäumen leuchten. Die Kugelfenster erinnerten an die Enden von Reagenzgläsern.
    In der Notaufnahme hatte niemand Zeit. Sie mussten in der Halle auf den Dienstarzt

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