Teufelsberg: Roman (German Edition)
Von der Stadt her dampfte die Morgendämmerung heran. Die Schlote der Heizkraftwerke stießen Rauch aus, der sich oben mit den Wolken und der Dunkelheit vermengte. In der Ferne lag ein lang gestrecktes, schwarzes Gebäude.
»Was ist das eigentlich da hinten?«, fragte Falko und zeigte darauf.
Friedrich drehte sich nicht zum Fenster um.
»Komm schon, Kapitän«, sagte Falko. »Du bist doch ein alter Berliner.«
Aber Friedrich saß einfach nur da.
»Ich habe schon bei Google Earth geguckt«, versuchte Falko es weiter. »Die Messe kann es nicht sein, die ist weiter nördlich. Wenn du mir nicht hilfst, muss ich noch hingehen, um das rauszufinden.«
Falko machte eine Pause und beobachtete den alten Mann. Er trug sein Leinennachthemd, und die Haare standen in alle Richtungen ab, als wollten sie fort. Wenigstens roch Friedrich nicht mehr so säuerlich, irgendjemand hatte ihn und seine Kleidung gestern gewaschen. Falko selbst war schon angezogen; er trug seinen schwarzen Rollkragenpullover und das zitronengelbe Jackett.
»Willst du mir das wirklich antun? Dass ich den ganzen Tag durch die Gegend latsche, nur um rauszukriegen, was für ein dunkles Ding das dahinten ist? Dass ich mich im Wald verlaufe und erfriere? Kapitän!«
Er stieß flehende, weinende Geräusche aus, aber als Friedrich noch immer nicht reagierte, zuckte er die Achseln und begann, sein Nutellabrötchen zu schmieren. Er aß die Hälfte auf, trank Kaffee, blätterte im »Tagesspiegel« und las die Überschriften: »Taxibranche in Verruf, Kinderwagen angezündet, Flugrouten-Protest wird immer wütender«. Neben dem Artikel war das Konterfei des Berliner Bürgermeisters abgedruckt, das Falko an den feist gewordenen Alec Baldwin erinnerte.
Langsam wurde es heller, das Gebäude in der Ferne wechselte vom Schwarz ins Grau, und es zeigten sich Rillen oder Fenster darin, Falko konnte das nicht genau erkennen. Friedrichs Teller war unberührt, und seinen Tee hatte er nicht getrunken.
»He, Body Snatcher!« Falko schnippte mit den Fingern. »Body Snatcher! Essen!« Er streckte den Arm aus wie damals Donald Sutherland am Ende des Horrorfilms, zeigte auf Friedrichs Teller und versuchte, das Schreien der Body Snatcher nachzuahmen, eine Mischung aus Schweinekreischen und Kreidequietschen. »Iiiiiiiiiiss!«, quiekte er, »iiiiiiiiiiss!«
Aber Friedrich blinzelte nur.
»Scheiße«, sagte Falko.
Er schnitt sein Brötchen in Streifen und die Streifen in Quadrate, wie es früher seine Schwester für ihn getan hatte, und hielt dem Alten ein Stück vor den Mund. Friedrich öffnete ihn, und Falko schob den Happen hinein. Friedrich kaute und schluckte, dann schob Falko den nächsten Happen nach. Er sah die Nutella an Friedrichs gelben Zähnen, die Brötchenkrümel, die vom blassen Zahnfleisch hingen, und die Speichelfäden im Mundwinkel.
»Ich glaube es nicht, was ich hier tue«, brummte er.
Er nahm Friedrichs Hand, legte sie an die Teetasse, und als die knorrigen Finger den Tassengriff umfassten, führte er Friedrichs Hand mit der Tasse an dessen Mund.
»Trinken«, befahl er.
Friedrich trank.
»Brav«, sagte Falko. »Du bist in Ordnung, Kapitän. Du und Xaver. Und Annika mit dem süßen kleinen Arsch. Sogar die dicke Sylvia ist okay, irgendwie. Beate … na ja. Und Lotti … Sag mal, hast du wirklich die alte Lotti gebumst? Hat dir wohl die Sprache verschlagen?«
Über der Stadt bildete sich ein pastellgelber Streifen, die Gebäude lagen in einem blauen Dunst. Im Nebenzimmer begann der Fernseher zu dröhnen.
»Deine Freundin ist aufgewacht«, sagte Falko. »Deine Freundin Lotti. Du hast sie doch gebumst? Du hast ihr das Herz gebrochen. Du verkommener Mensch.«
Falko sah ihn an, aber Friedrich fing den Blick nicht auf, sondern ließ den Kopf auf die Brust sinken.
»Scheiße«, sagte Falko. »Du bist tatsächlich komplett hinüber. Soll ich dir ein Geständnis machen? Ich weiß aus deiner Akte, wer du bist. Du bist Kriminalhauptkommissar Friedrich Bialla vom Betrugsdezernat II in Berlin Schöneberg, und du hast Alzheimer und nicht mitgekriegt, dass deine Frau den Löffel abgegeben hat.« Falko lachte. »Hör mal: ›Bekenntnisse des Betrügers Falko Sprenger‹ – wie klingt das in deinen dementen Ohren? Na ja, lieber dement als bescheuert, oder? Die meisten sind doch bescheuert. Was die so alles haben wollen. Bei Beate sind es lebendige Zähne, bei Lotti ein Brautkleid. Glaubst du, die wartet sechsundsechzig Jahre auf ihren Verlobten, weil sie ihn so
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