Teufelsengel
dieser Familie die Frau mit den meerjungfraugrünen Augen? Was hatte sie richtig gefunden?
Ein schmerzlicher Zug hatte sich auf das Gesicht der Frau gelegt. »Mein Mann war sehr streng in der Erziehung«, erklärte sie. »Er fand, dass man die Zügel fest in der Hand behalten musste bei einem Mädchen wie Alice.«
Romy sah Frau Kaufmann fragend an. Was sollte das heißen, ein Mädchen wie Alice? Was meinte sie mit Zügel?
»Alice war … träumerisch. Und leicht zu beeinflussen. Sie glaubte den Menschen mehr als sich selbst.«
»Welchen Menschen?«, fragte Romy vorsichtig.
Frau Kaufmann blickte zum Fenster, hinter dem ein schmaler dunkler Garten im Winterschlaf lag. Im schwarzen Skelett blattloser Bäume hing eine vergessene Schaukel.
»Sie glaubte jedem Menschen«, antwortete sie. »Alice war wie ein Wesen aus einer anderen Welt. Sie kannte keine bösen Gedanken.«
»Wie ist sie als Kind gewesen?«, fragte Romy.
»Im Kindergarten haben die Erzieherinnen sie oft in der Spielecke vergessen. Man hörte und sah sie nicht. Alice war da … und gleichzeitig ganz woanders.«
»Kam sie damit zurecht?«
Frau Kaufmann schüttelte verwundert den Kopf. Als hätte sie die Antwort auf diese Frage eben selbst erst entdeckt.
»Die Welt ist ihr immer fremd geblieben.«
Und dann fing sie an zu weinen. Verzweifelt und still.
Romy störte sie nicht. Leise stand sie auf, ging zur Terrassentür und schaute hinaus in den Himmel, der fast braun geworden war.
Als sie eine Hand auf ihrer Schulter spürte, drehte sie sich um.
»Möchten Sie ihr Zimmer sehen?«
Menschen strömten an Pia vorbei. Sie lachten und schwatzten oder waren in Eile. Pia trieb mit in dem Strom. Sie war inzwischen in einem Einkaufscenter gelandet. Die gleichen Markengeschäfte wie in jedem Center, die gleichen Waren in den Auslagen, die gleichen Sonderangebote. Die gleichen Gerüche überall, die gleiche Stimmung. Die gleichen Leute.
Nicht mal der Lärmpegel war ein anderer.
Pia erkannte alles wieder und fühlte sich aufgehoben und sicher. Sie hätte nur gern mehr Ruhe gehabt. Um nachzudenken.
Hier findet mich keiner, dachte sie. Hier kann mir keiner was tun.
Allmählich entspannte sie sich.
In einem Eiscafé suchte sie sich einen Tisch, an dem sie relativ ungestört sitzen konnte, mit Blick in den Raum, der von den Stimmen und Geräuschen vibrierte. Sie bestellte sich einen Cappuccino bei dem spindeldürren Kellner, der sie kaum wahrzunehmen schien, so sehr war er mit dem Scanner beschäftigt, mit dem er ihre Bestellung einlas.
Pia lehnte sich auf dem pink und kiwifarben gestreiften Plastikstuhl zurück und fing an nachzudenken.
Warum war sie nicht zu dem Gespräch mit Vero gegangen?
Nicht weil sie plötzlich den Mut gefunden hatte, nein zu sagen. Sie hatte das Treffen schlichtweg vergessen. Oder vielmehr verdrängt. Sie hatte es in den hintersten Winkel ihres Kopfs geschoben und aus ihrem Bewusstsein gelöscht.
Veros Interesse an ihren Gedanken und Gefühlen war ihr unheimlich. Erbarmungslos zerrten seine Fragen an ihr, kehrten ihr Innerstes nach außen.
Bis sie sich selbst nicht mehr kannte.
Sie fürchtete sich davor, falsche Antworten zu geben. Sein Misstrauen zu erregen. Ihn zu enttäuschen. Oder seinen Zorn auf sich zu ziehen.
Alles konnte sie ertragen, nur nicht, Veros Liebe zu verlieren.
Wie sollte sie das erklären? Und dann noch jemandem wie Vero selbst, der ihr intellektuell haushoch überlegen war? Der jeden ihrer Einwände, jeden ihrer Erklärungsversuche in Sekundenschnelle zerpflücken konnte?
Auseinandersetzungen waren ihr immer schon peinlich gewesen. Sie hatte ständig das Gefühl, sich für ihre bloße Anwesenheit entschuldigen zu müssen. Sie hatte nur noch nicht begriffen, warum.
Eine angepasste Kindheit in einem angepassten Elternhaus. Wenige Bücher, wenig Bildung, wenig Wissen. Ihre Eltern hatten einen Höllenrespekt vor jedem, der auf der gesellschaftlichen Leiter auch nur eine Sprosse über ihnen stand, und das war praktisch die halbe Welt.
Konnte das der Grund sein für Pias Hemmungen?
Vero gegenüber fühlte sie sich oft wie eine Kakerlake, die sich mit plumpen Bewegungen in Sicherheit zu bringen versucht. Nicht wert, dass jemand einen zweiten Blick auf sie warf. Abscheu erregend.
Es wäre für Vero so einfach, sie zu zertreten.
Der Cappuccino war heiß und stark. Der Milchschaum schmeckte sahnig, so köstlich, dass Pia kurz die Augen schloss. Dann betrachtete sie das Mittelstück des gigantischen
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