Teufelsengel
paar Scheine auch schon mal zu einem Mann ins Auto gestiegen.
»Es war dieser elende Freiheitsdrang«, hatte die Mutter mit leiser Stimme geklagt. »Sie hielt es in geschlossenen Räumen einfach nicht aus.«
Bert konnte nachvollziehen, dass jemand Wind, Regen und Sonne auf dem Gesicht fühlen musste. Dass er hinter geschlossenen Fenstern und Türen einging wie eine Primel. Es gab diese Menschen, und wenn sie niemanden hatten, der das verstand, war ihr Untergang vorprogrammiert.
Diese Eltern hatten ihr Kind aufgegeben, obwohl es ihr einziges gewesen war. Der tote, kalte Körper unter dem Laken der Gerichtsmedizin war nichts weiter als eine Erinnerung, von der sie sich abwenden konnten, um die Beerdigung vorzubereiten.
Sie hatten nichts Erhellendes zu berichten. Bert und Rick hatten ihnen zugehört und die Befragung zu Ende gebracht, so rasch es der gute Ton erlaubte.
Mehr Zeit nahmen sie sich für Rita Hayworth, eine Obdachlose, die sich aufgrund des Fotos im Kölner Anzeiger gemeldet hatte. Sie war siebenundsechzig Jahre alt, groß und hager, eine ehemalige Schauspielerin, die früher eine frappierende Ähnlichkeit mit der amerikanischen Hollywood-Diva gehabt haben sollte, der sie ihren Spitznamen verdankte.
Ihren richtigen Namen kannte mittlerweile keiner mehr. Vielleicht hatte sie selbst ihn längst vergessen.
»Sally hat Angst gehabt«, sagte sie. »Aber ich hab nicht rausgekriegt, wovor. Sie hat ja mit keinem mehr richtig geredet.«
»Seit wann war sie so … verändert?«, fragte Rick, der sich bisher zurückgehalten hatte. Er fühlte sich Frauen wie dieser nicht gewachsen und strahlte das auch aus.
Rita hob die Schultern.
»Schwer zu sagen. Sie kam und ging und war dann ja auch ne ganze Weile weg.«
»Allein?«, hakte Bert nach.
»Vielleicht«, antwortete sie unbestimmt. »Vielleicht auch nicht.«
»Und dann tauchte sie plötzlich wieder in der Szene auf?«, fragte Rick.
»Szene!«
Rita spuckte ihm das Wort ins Gesicht und mit ihm ein paar Tropfen Speichel.
Rick saß da wie in Stein gemeißelt. Mit keiner Regung ließ er Ekel oder Widerwillen erkennen. Bert bewunderte ihn.
»Das würde euch so passen, was? Szene! Klingt schick und macht was her, und nicht mal eure feinen Worte müssen mit unserm Dreck in Berührung kommen.«
Bert wusste, sie meinte nicht nur den oberflächlichen Schmutz. Ihm war auch klar, dass er leicht selbst anstelle dieser Frau sein könnte, wenn sein Leben anders verlaufen wäre.
»Wo tauchte Sally wieder auf?«, fragte er.
»Bei mir.«
Rita spielte mit dem Saum ihrer wattierten Jacke, die sie trotz der stickigen Luft hier im Einkaufscenter nicht abgelegt hatte. Sie hatten sich in den Arcaden verabredet, weil Rita nicht dazu bereit gewesen war, das Präsidium zu betreten. Es war ihr schon schwer genug gefallen, mit ins Eiscafé zu kommen.
»Sie kannte meine Stellen und hat mich gefunden, wenn sie mich suchte. Wir sind ja früher oft zusammen rumgezogen. Ein bisschen war sie mein Kind. Ich hab auf sie aufgepasst.«
Die befremdeten Blicke der übrigen Gäste prallten an ihr ab.
An Bert nicht.
Er erwiderte sie voller Zorn. Hätte er Rita damit nicht bloßgestellt, wäre er aufgestanden und hätte die Gaffer zur Schnecke gemacht.
»Ich hab ein warmes Plätzchen gefunden, hat sie gesagt. Ich würd dich ja mitnehmen, Rita, aber es würde dir da nicht gefallen. Ich hab gespürt, dass sie nicht mehr erzählen wollte, und hab nicht nachgefragt. Sally hat gewusst, wo ich es aushalte und wo nicht.«
Bert hatte Rita ein Kännchen Kaffee bestellt und ein Viertel Wein. Seine Einladung zum Essen hatte sie abgelehnt. Den Kaffee hatte sie bisher kaum angerührt. Der Wein war fast ausgetrunken.
Draußen war es dunkel wie am späten Nachmittag, dabei war es erst kurz nach elf. Der graue Himmel senkte sich immer tiefer auf die Stadt. Die Fingerspitzen, die aus Ritas giftgrünen Stulpen hervorschauten, hatten sich in der plötzlichen Wärme gerötet. Die Nägel waren abgekaut.
»Sie war so blass«, sagte Rita. »Und so schrecklich dünn. Warum, frage ich mich, wenn sie doch gut untergekommen war? Aber natürlich hab ich die Klappe gehalten.«
»Wieso natürlich?«, fragte Rick.
Sie strafte ihn mit einem langen Blick.
»Glauben Sie, Sally war krank?«, lenkte Bert sie ab.
»In der Seele.« Rita nickte. »Sie war in der Seele krank. Verlassen und allein.«
»Aber sind das nicht all …«
Bert versetzte Rick unter dem Tisch einen Tritt.
»Sally hatte Angst«, erinnerte er
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