Teufelsflut
»Wenn Sie jetzt zu dem Haus gehen, müsste Mrs. Grew eigentlich dort sein. Die kann Ihnen mehr erzählen. Schauen Sie doch hinterher noch mal hier vorbei, dann mache ich Ihnen eine Tasse Tee und ein Sandwich.«
»Das ist sehr nett von Ihnen«, sagte Tweed. »Mal sehen, ob wir Hunger kriegen.«
Sie stiegen wieder ins Auto und fuhren langsam durch das Dorf. Vor einem Haus kniete eine alte Frau und scheuerte die Türschwelle mit einer Wurzelbürste.
»Die Leute hier arbeiten viel«, bemerkte Paula.
»So war das früher überall in England, aber jetzt hat sich viel verändert.
Manches zum Guten, manches zum Schlechten.«
Während die beiden mit dem Besitzer des Pubs gesprochen hatten, war Newman in seinem Mercedes langsam an ihnen vorbeigefahren, ohne sie dabei anzuschauen. Jetzt passierten sie den Wagen, der mit aufgeklappter Kühlerhaube in einem Feldweg stand. Newman tat so, als würde er etwas am Motor nachschauen, beobachtete aber in Wirklichkeit die Straße.
»Das da muss es sein«, sagte Paula und deutete auf ein kleines Haus, das etwas abseits von den anderen stand. »Die Frau, die im Garten Unkraut jätet, dürfte demnach Mrs. Grew sein.«
Tweed hielt vor dem Häuschen an und stieg aus. »Vielleicht sollten lieber Sie mit Mrs. Grew reden«, sagte er. »Einer Frau gegenüber ist sie möglicherweise gesprächiger.«
»Guten Morgen«, sagte Paula freundlich zu der grauhaarigen Frau, die wohl Mitte fünfzig war und eine grüne Gartenschürze trug. »Sind Sie Mrs. Grew?«
»Kann schon sein.«
Die Frau erhob sich und zog ihre Arbeitshandschuhe aus. Sie ließ sie auf den Boden fallen, streckte sich und legte beide Hände an den Rücken, als ob sie starke Kreuzschmerzen hätte.
»Mein Name ist Paula. Ich war vor Jahren mit Serena und Davina Cavendish befreundet. Sie haben mir erzählt, dass sie in Steeple Hampton ein Haus haben. Ich bin gerade auf der Durchreise und dachte, ich schaue mal bei ihnen vorbei.«
»Davina ist tot. Ihr Grab ist auf dem Friedhof neben der Kirche.«
»Ich weiß. Aber ich habe gehofft, dass Serena vielleicht da ist. Kommt sie denn häufig her?«
»So gut wie nie. Zumindest kriege ich sie nie zu Gesicht. Vielleicht kommt sie ja, wenn ich nicht da bin. Mitten in der Nacht. Ich mache einmal die Woche sauber, deshalb merke ich es, wenn etwas nicht an seinem gewohnten Platz ist. Manche Leute glauben zwar, sie hätten etwas an seinen alten Platz zurückgestellt, aber das stimmt nicht. Sogar Frauen machen solche Fehler.« Sie funkelte Paula mit ihren wachen Augen an. »Wer weiß, viel eicht trifft sich ja Serena hier mit einem Liebhaber. Einmal war es im Sommer so heiß, dass ich nicht schlafen konnte. Ich habe mich angezogen und einen kleinen Spaziergang gemacht, und da habe ich gesehen, wie in den Fenstern Licht war. Weiter oben hat ein Wagen geparkt. Auf der falschen Seite, was ich ziemlich komisch fand. Man kommt zwar auch in dieser Richtung zurück auf die Autobahn, aber es geht viel schneller, wenn man durch den Ort fährt.
Vielleicht wollte Serena ja nicht, dass jemand im Dorf ihr Auto hört.«
»Wie lange ist das denn her?«, mischte Tweed sich in das Gespräch ein.
»Das ist mein Chef«, sagte Paula. »Ich arbeite für ihn in London. Er war so freundlich, mich hierher zu fahren.«
»Ihr Chef«, sagte Mrs. Grew mit einem Augenzwinkern. »Verstehe.«
Paula musste lächeln. Mrs. Grew hielt sie offenbar für Tweeds Geliebte.
Die Leute auf dem Land hatten ja eine merkwürdige Fantasie.
»Sie wollten wissen, wie lange das her ist«, sagte Mrs. Grew, an Tweed gewandt. »Ich würde mal sagen etwa sechs Monate. Aber seitdem war immer wieder jemand im Cottage. Einmal habe ich in der Küche ein Geschirrtuch gefunden, das noch ganz feucht war. Die beiden Schwestern glichen sich wie ein Ei dem anderen«, fügte sie zusammenhanglos an. »Aber Davina war die intelligentere von beiden.
Sie hat sogar ein Stipendium von Oxford für Chemie und Biochemie bekommen.«
»Meinen Sie nicht Biologie?«, unterbrach sie Tweed.
»Wenn ich Biochemie sage, dann meine ich auch Biochemie«, erwiderte die Frau und schaute ihn böse an. »Ich wäre selber gern auf die Universität gegangen, wenn meine Eltern es sich hätten leisten können.
Noch heute lese ich viel. Jeden zweiten Monat hole ich mir neue Bücher aus einem Antiquariat in Andover. Besonders interessiere ich mich für Naturwissenschaften, Reisebücher und Biografien. Aber jetzt muss ich wieder an meine Arbeit.« Sie bückte sich, um ihre
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