Teufelskuss und Engelszunge - Jones, E: Teufelskuss und Engelszunge
angekommen, gelangte sie in eine Orgie, die sich von der letzten Stufe, über den gesamten Flur und bis in sämtliche angrenzende Räume zu ergießen schien. Überall am Boden lagen nackte Menschen und liebten sich zu zweit, zu dritt und sogar zu viert. Wer nicht in eines der Spiele verwickelt war, saß auf der Zuschauerbank, die an der zur Treppe gegenüberliegenden Wand aufgestellt war.
»Na, toll«, sagte Laurena und stöhnte genervt. Das hatte ihr noch zu ihrem Glück gefehlt. Ein Haufen verrückter Nackter, durch den sie sich kämpfen musste, um das Portal in die Zwischenwelt zu erreichen. Sie stieg über die sich windenden Leiber, was gar nicht so einfach war, denn es gab kaum eine freie Stelle am Boden, auf die sie treten konnte. Ein Hindernislauf der besonderen Art. Obendrein musste sie immer wieder auf Finger schlagen, die sich ihr empor streckten und unter ihren Rock fassen wollte. Selbst schuld, sagte sie sich. Warum lief sie auch ohne Unterwäsche herum?
Als sie die Menge endlich hinter sich gelassen hatte, atmete sie erleichtert auf. Vor ihr ragte eine goldglänzende Tür in die Höhe. Verschlungene Bilder von Engeln und Teufeln waren darin eingraviert. Ein imposanter Anblick. Laurena drückte die Klinke hinunter. Was sie dahinter zu sehen bekam, überraschte sie, denn sie war nie zuvor dort gewesen. Grüne Wiesen streckten sich in weite Ferne aus. Es war eine ebene Fläche, deren Ende sie nicht erspähen konnte. Es gab Blumen, Bäume und Schmetterlinge und soweit das Auge reichte saftiges, grünes Gras.
Marafella betrachtete den Ort, an den der Pfeil in der Sanduhr sie geführt hatte. Sie wusste, dass sie hier schon einmal gewesen war, und je länger sie darüber nachdachte, umso heftiger überfiel sie die Erkenntnis.
»Hier hast du mich ins Wasser geworfen«, sagte sie zu Ben. »Hier wäre ich beinahe ertrunken. Wie passend. Glaubst du, die Seele weiß davon?«
»Unmöglich.« Ben schüttelte den Kopf. »Eine Seele ist normalerweise gar nicht in der Lage, eigenständig zu denken. Das gelingt ihr nur durch den Körper, in dem sie sich einnistet.«
»Ja, ich weiß«, sagte Marafella, »normalerweise ist das so. Allerdings glaube ich mittlerweile nicht mehr daran, dass diese Seele überhaupt nach irgendeiner Regel spielt. Vielleicht hat sie in der Zwischenzeit ihren eigenen Willen entwickelt. Das wäre theoretisch möglich. Immerhin haben wir es vorher nie ausprobiert, was mit einer Seele geschieht, wenn sie so lange unbeaufsichtigt auf der Erde umher schwirrt.«
»Nein«, stimmte Ben ihr zu, »die Unteren auch nicht.«
Er nahm ihr die Sanduhr aus den Händen, die das Blinken eingestellt hatte. Überhaupt zeigte sie keinerlei Regung mehr. Der Pfeil war verschwunden und die grauen Körner wirken ziemlich glanzlos. Ben schüttelte die Uhr kräftig durch und legte sie anschließend flach auf seine Hand. Plötzlich pulsierte das Innere rot, wie ein Herz, das zu schlagen begonnen hatte. Die Uhr stellte sich von selbst auf Bens Hand auf, der Pfeil erschien und deutete schräg nach oben in Richtung der seltsamen Menschenkäfige, die an dem großen Rad hingen. Erst jetzt erkannte Marafella, dass es sich um runde Kugeln aus Glas handelte.
»Ich glaube, unsere Seele fährt Riesenrad«, sagte Ben.
»Riesen… was?«
»Riesenrad. Das große Ding da. Die Seele befindet sich in einer der Gondeln.«
»Gondeln«, wiederholte Marafella. Sie verstand nur die Hälfte von dem, was er sagte, aber offenbar schwebte die Seele in einem der Glaskästen durch die Luft.
»Das ist doch großartig!« Er versenkte die Sanduhr in seiner Jackettasche und wirkte sehr zufrieden. Marafella starrte ihn irritiert an.
»Ich verstehe nicht, was daran großartig sein soll.«
»Nun ja, wir müssen im Prinzip nur dort unten stehen bleiben und warten, bis der Körper und die Seele aus der Gondel steigen. Dann können wir sie uns schnappen. So einfach ist das.«
Marafella glaubte nicht daran, dass sich die Angelegenheit tatsächlich so leicht erledigen ließe. Aber sie schwieg und wartete ab.
19.
Es schienen Stunden oder gar Tage vergangen zu sein, in denen Laurena über die Wiese der Zwischenwelt gelaufen war. Sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Hunger und Durst brachten sie zum Erlahmen. Irgendwann sah sie nur noch Grün. Sie fühlte sich blind für alles andere. Wie sollte sie nur jemals zu dem Palast von Justitia und Aequitas gelangen?
An einem mächtigen Kastanienbaum hielt sie an. Sie setzte sich in dessen Schatten,
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