Teufelspfad
uns einfach beten, dass es sich nur um einen schlechten Scherz handelt“, sagte sie.
In tiefer Stille fuhr sie zur Rechtsmedizin. Dort würde sie als Erstes ein Telefon suchen und Baldwin anrufen. Es war schon nach Dienstschluss, und das Gebäude lag in völliger Dunkelheit. Mit ihrer Schlüsselkarte öffnete sie die Eingangstür. Sie gab verdammt noch mal ihr Bestes. Von außen betrachtet wirkte es nicht sonderlich klug, alleine im Dunkeln herumzulaufen. Ihr wurde immer mehr bewusst, wann sie wie verletzlich war. Es war gar nicht so schwer, sich angreifbar zu machen. Sie musste nur so tun, als würde sie nicht auf ihre Umgebung achten, als fühlte sie sich wohl genug, um in ihrer Wachsamkeit nachzulassen. Und das bedeutete, in der Nähe derer, die sie liebte, auf einem schmalen Grat zu wandern, um ihn hervorzulocken.
Sie war jetzt schon seit einigen Stunden allein. Warum hatte er noch nicht den nächsten Zug gemacht? Worauf wartete er in drei Gottes Namen?
Das Türschloss schnappte auf, und Taylor betrat das Gebäude. Der Empfang lag dunkel und verlassen da. Kris, das temperamentvolle Mädchen, das tagsüber hier saß und sich um Anrufe, Anfragen und trauernde Familien kümmerte, lag hoffentlich schon zu Hause im Bett.
Taylor zog Kris’ Stuhl hervor und setzte sich. Als sie nach dem Telefonhörer griff, fiel ihr ein Foto ins Auge, das Kris an ihren Computermonitor geklebt hatte. Kris und Barclay Iles in Badesachen, wie sie sich sonnengebräunt und glücklich umarmten. Ah. Das erklärte Iles gesunde Farbe. Taylor hatte nicht gewusst, dass die beiden ein Paar waren. Kris schien immer eher auf Bad Boys zu stehen, und Iles war …harmlos, um ehrlich zu sein. Hm, interessant.
Sie wählte ihre Festnetznummer, aber Baldwin ging nicht ran, sondern es meldete sich gleich der Anrufbeantworter. Das geschah nur, wenn er auf der anderen Leitung telefonierte, also hinterließ sie ihm eine Nachricht, wo sie war, erzählte kurz von dem Pentakel am Fundort von Peter Schechters Leiche und sagte ihm zum Schluss, dass sie ihn liebte. Zufrieden mit sich legte sie auf.
Nach einem letzten Blick auf das Bild von Kris und Barclay Iles stand sie auf, durchquerte die Lobby und zog ihre Schlüsselkarte durch den Kartenleser am Eingang zum Allerheiligsten der Rechtsmedizin. Ein langer Flur führte zu den Autopsieräumen. Taylor lächelte, als sie an Sams Büro vorbeikam. Die Tür stand offen, eine kleine chinesische Lampe erfüllte den Raum mit sanftem Licht. Alles war an seinem Platz. Sam war eine Ordnungsfanatikerin; in ihrem Büro sah es nie so aus, als wäre gerade eine Bombe explodiert. Dieser leicht zwangsneurotische Hang machte aus ihr so eine gute Rechtsmedizinerin. Es gab kaum einmal etwas, das sie übersah.
Taylor betrat die Umkleidekabine für Frauen, band ihr Haar zum Zopf und zog sich die obligatorische OP-Kleidung über. Sie wollte nicht, dass ihre Zivilklamotten auch nur in die Nähe des Obduktionsraums kamen – Wasserleichen waren am schlimmsten; wenn man da nicht ganz genau aufpasste, stank man noch tagelang.
Sam hatte bereits angefangen. Sie trug ihre Ganzkörper-Bleischürze und stand mit einem Becher grünem Tee in der Hand an der Tür. Sie war nicht allein. Dr. Michael Tabor, der forensische Odontologe des Staates Tennessee, betrachtete am Leuchtkasten eine Röntgenaufnahme. Stuart Charisse, Sams Laborassistent, machte derweil weitere Röntgenaufnahmen des immer noch vollständig bekleideten Leichnams.
Tabor begrüßte Taylor mit einer Umarmung. Sie arbeitete gerne mit ihm zusammen. Er war nicht nur ein guter Zahnarzt, sondern auch einer der erfahrensten forensischen Odontologen im Staat. Seine Verbindungen nach Los Angeles und New York hatten ihm landesweite Bekanntheit eingebracht und ermöglichten es ihm, auch außerhalb von Tennessee zu arbeiten. Nach dem 11. September war er nach New York berufen worden, um bei der Identifizierung der Opfer zu helfen. Unermüdlich hatte er in New York wochenlang alles gegeben, um Feuerwehrmännern, Polizisten und den anderen unschuldigen Männern und Frauen, die beim Einsturz der Türme ums Leben gekommen waren, einen Namen zu geben. Taylor wusste, dass dieses Erlebnis ihn verändert hatte, und sie respektierte ihn sehr für seinen Einsatz.
Während Stuart den Kopf der Wasserleiche vorbereitete, um die Zähne zu röntgen, ging Tabor das nationale Zahnschemaregister auf seinem Laptop durch. Auch wenn er sich zwei Röntgenaufnahmen anschauen und beinahe sofort sagen konnte,
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