Teufelswasser
Urban Denschler, besuchen.
Er wählte absichtlich einen Umweg, um nicht etwa von seiner Mutter oder seinem Chef, Professor Raimund Hanauer, ertappt zu werden, die ihn ja beide in Bad Kissingen vermuteten und glaubten, er würde sich erholen beziehungsweise sein Körpergewicht vermindern. Aus diesem Grund musste Philipp erst recht auf seinen regelmäßigen Rundgang durch die Bibliothek der katholischtheologischen Fakultät verzichten, was er sehr bedauerte. Nur allzu gern hätte er in neueren Fachzeitschriften nach moraltheologischen Veröffentlichungen zum Thema «Schönheitsoperationen» gefahndet und sich ausführlicher mit der Ästhetik des Körperbaus auseinandergesetzt, theoretisch-wissenschaftlich, versteht sich. Doch prompt kam ihm, gerade als er sich dem Archiv näherte, sein Chef von dort entgegen.
«Ich dachte, Sie seien in Bad Kissingen», bemerkte Professor Hanauer leicht indigniert. Der im priesterlichen Stil elegant gekleidete schlanke Herr, dessen Falten im Gesicht angestrengtes und gelehrtes Arbeiten verrieten, war es grundsätzlich gewohnt, auf die Mitteilungen seiner theologischen Studenten und Studentinnen sowie auf die seines Assistenten Dr. Philipp Laubmann in allen Angelegenheiten vertrauen zu können. Leider konnte Hanauer sich auch darauf verlassen, dass Laubmanns Habilitationsschrift bis auf weiteres kein Ende finden würde und dass so manches andere bei seinem Assistenten vorerst offenblieb – zum Beispiel die Entscheidung für das Priesteramt.
«Ich war schon in Bad Kissingen, die ganze Zeit über, und bin sozusagen auch jetzt dort.» Dr. Laubmann hatte Mühe, mit seinen umständlich erfundenen Begründungen nicht ins Stottern zu geraten. «Allein, ein Problem hat mich beständig beschäftigt, unter anderem bezüglich meiner Habilitation, um das zu klären, ich ohne Archivmaterial nicht zu Rande kommen würde, war ich des Glaubens; denn neben der körperlichen Tortur … will sagen, meiner Kur, die mich nun mal sehr aufreibt, habe ich trotzdem geistige Kapazitäten frei. Deswegen bin ich heute kurz nach Bamberg gekommen, weil mir das einfach keine Ruhe gelassen hat. Sie wissen ja, ich kann dann nicht richtig schlafen, sondern wälze mich im Bett nur hin und her, wenn ich solche Probleme zu bewältigen habe … und das ist gar nicht gut für meine Erholung.» Laubmann versuchte möglichst treuherzig zu blicken.
«Können Sie sich eine Unterbrechung Ihres Kuraufenthalts überhaupt erlauben? Was sagt denn Ihr Arzt dazu?»
«Der kennt mich inzwischen schon zur Genüge. Außerdem fahre ich nachher gleich wieder zurück.»
Professor Hanauer konnte sich nicht so ganz mit Laubmanns Ausrede abfinden. Aber was sollte er tun? Er wünschte ihm weiterhin eine gute Genesung und ließ den kranken Assistenten seiner Wege ziehen.
Dieser hatte das Gefühl, die unerwartete Begegnung einigermaßen glimpflich überstanden zu haben; vor allem deswegen, weil er in seiner Not zu keinen richtigen Lügen hatte greifen müssen. Das wäre so gar nicht seine Sache gewesen. Halbwahrheiten taten's auch.
Das Bamberger Stadtarchiv war vor Jahren in einem Gebäude untergebracht worden, das ursprünglich zu einem größeren Krankenhaus-Komplex gehört hatte. Der ältere Teil des Krankenhauses war am Ende des 18. Jahrhunderts nach den Vorstellungen des fürstbischöflichen Leibarztes Dr. Adalbert Friedrich Marcus erbaut worden. Dieses Hospital galt dank seines ausgeklügelten Entwässerungs- und Belüftungssystems als eines der fortschrittlichsten jener Zeit und wurde bis weit ins 20. Jahrhundert als solches genutzt.
Anfang der 1980er-Jahre hatte man ein neues, weit größeres Klinikum nahe dem Bruderwald errichtet, und damit gar nicht so weit entfernt von der Niederlassung des Säkularinstituts. Das frühklassizistische Krankenhaus-Gebäude des Dr. Marcus aber war in ein Hotel umgewandelt worden, was Laubmann geradezu grotesk fand. Was ihn jedoch so richtig wütend machte, war die Tatsache, dass dieses geschichtsträchtige Gebäude durch die Umnutzung gleichsam sein Gedächtnis verlor. Wenigstens bewahrte der jüngere Teil des früheren Krankenhauses, die um 1900 errichtete Chirurgie, durch den Einzug des städtischen Archivs die stadtgeschichtliche Erinnerung – und seine eigene. Philipp hatte hier im Kindesalter seinen Blinddarm eingebüßt.
Kaum dass er das Archiv betreten hatte, stieß er auf Dr. Urban Denschler, seinen Schulfreund, der gerade mit einem Stoß Archivalien unterwegs war. Er balancierte sie auf
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