Teuflisch erwacht
Eindruck nicht entschärfen. Das Gebäude krönte das Bild. Das uralte Backsteinhaus türmte sich bedrohlich auf und das Wort Einsturzgefahr schoss ihr durch den Kopf. Von der Straße her fiel ein seichter Lichtschein auf die Fassade. Die Straßenlaterne flackerte gelegentlich. Die Schatten bewegten sich und wirkten lebendig. Es lag etwas Dunkles in der Atmosphäre. Ihre Augen vermochten dem Anblick keinen Sinn zu verleihen und auch das Gehirn hatte aufgegeben, eine Bezeichnung für das zu finden, was sich ihnen darbot. Falsch. Wahrscheinlich war es den Menschen nicht bestimmt, dem Horror einen Namen zu geben. Anna versuchte, nicht an das zu denken, was folgen würde, doch ihre Gedanken kreisten unablässig um das drohende Unheil, das klar auf der Hand lag.
»Du hast Angst«, stellte Marla fest. Sie wirkte nicht ansatzweise so gefasst, wie ihre Stimme vorgaukelte.
Natürlich hatte sie Angst, zum Teufel! Wie konnte sie nach Marlas Geschichte dem Anblick des Horrorhauses keine Angst verspüren? Aber sie besaß genug Köpfchen, um zu begreifen, dass der Besuch vielleicht die perfekte Lösung darstellte. Einen Toten zu wecken, ohne die bescheuerten Pergamente, an die sie nicht herankamen. Wie blöd müsste sie sein, es nicht zu versuchen? »Nein«, antwortete sie deshalb fest. »Ich habe keine Angst.«
Mit den Worten verflog das Gefühl, das ihr die Kehle zugeschnürt hatte. Sie schluckte den Rest des Kloßes hinunter und rief sich Sebastians Bild ins Gedächtnis. Es setzte sich schwer auf ihr Herz. Sie würde tun, was getan werden musste und ihn auf keinen Fall im Stich lassen.
»Zumindest ist die Angst nichts im Vergleich zu der Panik, die ich seinetwegen verspüre. Sebastian ist allein da draußen. Wir müssen das durchziehen.«
»Es ist diesmal anders. Wir wollen bloß diese eine Sache von Salim«, antwortete Marla und klang dabei, als müsste sie auch sich überzeugen.
Anna nickte. Sie warf einen Blick auf die Uhr am Armaturenbrett. Es herrschte tiefste Nacht. Ob sie bis Sonnenaufgang warten sollten? Wäre es dann weniger schaurig? »Können wir da um die Zeit einfach reinschneien?«, fragte sie und deutete auf den Hauseingang. Hoffentlich verneinte Marla.
»Salim ist wach, ich habe ihn noch nie schlafen gesehen. Wir sollten keine Zeit verschwenden.«
Schlagartig wirkte Marla stark. Wie hatte sie so schnell den Schalter gefunden und umgelegt? Wo war Annas verflixter Schalter? Sie verzichtete darauf, ihn zu suchen. Wenn sie jetzt nicht zögerte, einfach aus dem Wagen sprang und die Sache hinter sich brachte, würde es schon nicht so schlimm werden. Der erste Schritt war oft der Schwerste. Je länger sie noch wartete, desto tiefer steigerte sie sich in ihr Kopfkino hinein. Ein Horrorstreifen mit Überlänge. Sie atmete tief durch, öffnete mit festem Griff die Wagentür und stieg wortlos aus dem Auto. In dem schäbigen Innenhof fing sich der Wind und sie erschauderte, während sich Marla aus dem Wagen erhob. Zeitgleich schlossen sie die Türen.
Anna marschierte mit großen Schritten zum Gebäude. Ein beißender Geruch, der an Urin erinnerte, schlug ihr entgegen. Sie legte die Hand vor Mund und Nase, hielt die Luft an und unterdrückte den Würgereiz. Übelkeit brannte in ihrer Kehle. Wo hatte Marla sie hingeführt? Sie dachte an Sebastians Sportwagen, seine teure Armbanduhr und sein gesamtes Auftreten. Sie erinnerte sich an Kiras Anmut, ihre Edelklasse und den Duft ihres teuren Parfums. Selbst der kurze Blick, den sie auf Josh geworfen hatte, unterschied sich Meilen von diesem Schrecken. Macht spiegelte sich für gewöhnlich anders wider. Dass an diesem Ort jemand lebte, der über enorme Kräfte verfügte und mit Magie dealte, kam ihr absurd vor.
Links und rechts vor dem Eingang türmten sich Schneeberge. Anna beschlich der Verdacht, dass sich unter den weißen Hügeln der Unrat sammelte. Eine unnatürliche Dunkelheit lag in der Luft und verschluckte das Licht der Straßenlaterne.
»Was ist das?«, fragte sie über die Schulter hinweg und wedelte vor ihrer Nase herum.
Marla gesellte sich neben sie und zuckte die Schultern. »Auf drei?«
Anna drückte die Schelle. Sie fühlte sich nah am Ersticken. Tatsächlich stach Salims Klingelschild als Einziges ins Auge. Die anderen Schilder waren nicht lesbar, falls überhaupt noch jemand in der Ruine wohnte.
Marla starrte die Tür an. Annas Beine mutierten zu wabbeliger Gummimasse. Sie drückte eisern die Gelenke durch.
Knarrend und wie von Zauberhand schwang die
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