Teuflische List
Paul Graves hatte ihn verletzt, acht Jahre zuvor.
Paul Graves, an den Jules nicht zu denken versuchte.
Jules versuchte es.
Der Deal der Geschwister bestand darin, dass sie sich um den jeweils anderen kümmern wollten. Sie wolltenden anderen niemals verraten und einander stets treu bleiben. Jules war sicher, dass Silas sein Leben für sie gegeben hätte. Einmal hatte er es ihr sogar ausdrücklich gesagt.
»Ich würde für dich sterben, Jules«, hatte er gesagt.
Und sie hatte ihm geglaubt. Was immer auch geschah, Silas war und blieb ihr geliebter großer Bruder, auch und gerade wegen seiner vielen Fehler.
Nun, da sie älter und reifer geworden war, erkannte Jules diese Fehler deutlicher als früher. Die Bedürftigkeit, die Forderungen, seine Art, ihr die kalte Schulter zu zeigen, um sie zu bestrafen – das alles zeigte Silas’ Verletzlichkeit, und Jules liebte ihn dafür umso mehr.
»Und wo gedenkst du das zu tun?«, fragte Silas, nachdem Jules ihm von ihrem Plan erzählt hatte, mit Ralph Weston zusammenzuleben. »In meinem Haus?«
Wut flackerte in ihr auf.
Bleib ruhig, ermahnte sie sich.
»Nein«, antwortete sie mit fester Stimme. »Wie ich dir schon gesagt habe, hat Ralph eine Wohnung in Camden Town. Da werden wir wohnen.«
»Dann willst du mich also verlassen, hm?«, sagte Silas.
Jules entging der teilnahmslose Tonfall nicht. »Ich verlasse dich nicht, Silas … nicht wirklich jedenfalls.«
»Du wirst ausziehen.«
»Ja, aber …«
»Du wirst mit ihm schlafen statt mit mir«, sagte Silas.
Er erinnerte sich daran, dass er einst mit Patricia eine ähnliche Diskussion geführt hatte, nachdem sie ihm von ihrem Vorhaben berichtet hatte, einen Fremden zu heiraten.
»Natürlich«, erwiderte seine Schwester.
»Du bist genau wie sie«, sagte Silas.
Es gab noch immer keine feste Beziehung in seinem Leben. Sein Auge für Schönheit und ein Teil seiner Arbeit als Fotograf – zwischen Engagements für Hochzeiten, Taufen und Schauspielerporträts arbeitete Silas für Werbe- und Modeagenturen – hatten zur Folge, dass es in seinem Umfeld nie an schönen Frauen mangelte, von denen ein erklecklicher Prozentsatz sich zu ihm hingezogen fühlte.
Eine großartige Liebesaffäre hatte es trotzdem nie gegeben. Nur einmal, bei einem Model namens Katie aus Stuttgart, war es so etwas wie Liebe gewesen, denn in diesem Fall hatte sich guter Sex mit gegenseitiger Zuneigung verbunden. Doch Katie hatte rasch mehr gewollt, viel mehr, als Silas zu geben bereit gewesen war, und so war die Beziehung in die Brüche gegangen, und das war auch gut so. Wenn Silas Zuneigung haben wollte, hatte er stets zu Jules gehen können.
Bis jetzt.
Ralph Weston war ein großer, unsauber aussehender Mann mit lockigem, sich lichtendem braunen Haar und dunklen Augen hinter einer runden Brille. Er trug meist verschlissene Kordhosen und besaß eine ganze Sammlung fast gleich aussehender blauer Hemden und Pullover mit V-Ausschnitt. Ralph hatte Jules bei einer Buchvorstellung im Africa Centre kennen gelernt und sich sofort bis über beide Ohren in sie verliebt. Er fand sie unglaublich attraktiv, intelligent, gefühlvoll und – mit Ausnahme des seltsamen und innigen Verhältnisses zu ihrem Bruder – sehr offen.
»Das ist ungewöhnlich«, hatte Ralph bei einer ihrer ersten Verabredungen gesagt, die sie in ein kleines Fischrestaurant in Kentish Town führte, wo man über Ralphs Lebensmittelallergie Bescheid wusste, wie er Jules erklärt hatte. Diese Allergie konnte einen normalen Restaurantbesuch zu einer lebensgefährlichen Lotterie für ihn machen. »Ja, wirklich. Es ist selten, dass Bruder und Schwester sich in eurem Alter noch so nahe stehen.«
Jules hatte ihm beigepflichtet, dass dies wohl recht ungewöhnlich sei, und das Gespräch dann rasch wieder auf die Allergie gelenkt.
»Ich bin allergisch gegen Nüsse«, erklärte Ralph. »Eine solche Allergie ist zwar weit verbreitet, aber trotzdem lästig.«
»In der Schule gab es ein Mädchen, das so empfindlich war, dass sie immer Adrenalin bei sich haben musste«, sagte Jules.
Ralph klopfte sich auf die Jackentasche und lächelte.
»Hast du keine Angst?«, fragte Jules.
»Nicht allzu oft, Gott sei Dank«, antwortete Ralph. »Solange ich aufpasse, kann eigentlich nichts passieren.«
Er wartete, bis der Kellner ihnen Wein nachgeschenkt hatte.
»Du bist also nie ausgezogen?« Er nippte an seinem Glas. »Hast du denn nicht den Wunsch nach Unabhängigkeit? Nach Freiheit?«
»Man könnte mich
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