Teuflische Lust
Wie zart sich ihr menschlicher Körper anfühlte. Mit nur einer Hand wäre es ihm möglich, ihn zu zerbrechen, wenn er es wollte. Aber das tat er nicht. Im Gegenteil. In ihm stiegen Gedanken und Gefühle auf, die er nicht kannte. Er wollte sie nicht zerstören, er wollte sie schützen. Vor anderen Dämonen, vor jeder Gefahr, die sich einem Menschen stellte. Sie weckte eine ungekannte Zärtlichkeit in ihm. Es war aufregend. Seit er existierte, hatte er nie auch nur etwas Ähnliches empfunden.
Sein Blick glitt durch das Schlafzimmer. Jedes Möbelstück, jedes Bild, selbst der Vorhang vor den Fenstern – alles trug ihre Handschrift. Alles roch nach ihr. Ohne dass Alexia aufwachte, befreite er sich aus ihrer Umklammerung und sah sich um. Wie schön dieser Ort war. So unschuldig undinzwischen vertraut. Wie ein Zuhause, dass er nie gehabt hatte. Er betrachtete die Porzellanfiguren in ihrer Vitrine. Ja, auch die sahen nach ihr aus. Eine lustige Tonschildkröte, eine große Muschel, ein Rokokopärchen aus Porzellan. Nichts anderes hätte zu ihr gepasst.
Er entdeckte einen Schülerlotsenpokal aus dem Jahr 1997. Damals war sie zehn Jahre alt gewesen. Er stellte sich die kleine Alexia in ihrer Uniform vor und wie sie die anderen Schüler sicher über die Straße geleitete. Mit einer Kelle in der Hand. Pflichtgefühl, Loyalität und Verantwortungsbewusstsein. Auch das war ein Teil von ihr, zeichnete sie aus.
Sein Blick wanderte weiter, hin zu einem kleinen silbergerahmten Foto. Es zeigte Alexias Familie. Ihre Eltern, ihre Schwester und ihre Großmutter Adelia. Ja, die alte Dame sah Alexia ein wenig ähnlich. Sie hatte dieselben goldenen Augen, die Kendrael so faszinierten. Einen kurzen Moment fühlte er sich schlecht, Alexia auf dem Friedhof so dreist belogen zu haben. Aber anders wäre er ihr nie so nah gekommen. Und das wäre äußerst bedauerlich gewesen.
Diese Vitrine war ein wahrer Schatz. Sie verriet ihm alles über sie, was er wissen wollte. Er sah darin ihre Vorlieben, ihren Humor und ihren Sinn für das Schöne. Dann aber traf sein Blick eine goldbeschlagene Schatulle, die nicht viel kleiner war als ein Schmuckkästchen. Seine Nackenhaare stellten sich auf, und sein Körper spannte sich an. Wie hätte er sie nicht erkennen sollen? Diese Schatulle war für über zweihundert Jahre sein Gefängnis gewesen. Die rätselhaften Runen, die in das Holz gekerbt waren, hatten ihn in ein zeitloses Nichts verbannt. Aber nun war er frei. Leise öffnete er die Glastür und holte das Kästchen heraus. All die zärtlichenGefühle, die in ihm erblüht waren, erloschen. Zorn keimte in ihm auf. Er musste die Schatulle vernichten, bevor sie ihm ein zweites Mal zum Gefängnis wurde …
Sie ging ihm nicht aus dem Kopf. Seit er diesen eigenartigen Traum gehabt hatte, war Marcel Klett überzeugt davon, dass er die Frau aus dem Schwimmbad kannte, ihr zumindest schon einmal begegnet war. Etwas Vertrautes hatte in ihren Augen gelegen. Sie waren groß gewesen, eindringlich und dunkel, ja, sehr dunkel, fast so schwarz wie der Ozean. Nur wenn das Licht auf sie fiel, hatten sie blau gewirkt. Er war seine Aktsammlung durchgegangen, um nach diesen Augen zu suchen. Aber sie gehörten keiner der Frauen, die er fotografiert hatte.
Die Sonne schien durch den Vorhang hindurch und flutete nach und nach sein Schlafzimmer. Marcel lag mit einer Morgenlatte im Bett, doch seine Gedanken waren ganz woanders. Er musste endlich wissen, wer die Fremde war.
Kurzentschlossen sprang er aus seinem Bett, eilte ins Bad, um sich Abhilfe zu verschaffen, und packte anschließend ein Handtuch und Badesachen in einen Rucksack. Dann machte er sich auf den Weg zum Hallenbad, das um diese Uhrzeit bereits geöffnet hatte.
Marcel war nicht allein deswegen gekommen, um zu schwimmen, er war in der Hoffnung hier, ihr zu begegnen. Er wusste, wie unsinnig und albern der Gedanke war, denn die Frau, die ihn Tanja und all die anderen Mädchen hatte vergessen lassen, existierte nicht in der Realität. Sie war seinen Träumen und Wünschen entsprungen. Dennoch hoffte eraus irgendeinem naiven Grund, sie könne in der Schwimmbaddusche auftauchen, wie sie es schon mal getan hatte. Nur diesmal real.
Marcel machte alles genau so wie beim ersten Mal. Erst sprang er ins Wasser, schwamm einige Bahnen und machte sich dann auf den Weg zur Dusche. Sein Herz pochte heftig, als er die Tür aufschob und ihm warme, stickige Luft entgegenschwebte. Würde sie auf ihn warten? Würde sie ihn ein
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