Teuflische Versprechen
Herbst und der Winter kamen, die Nächte lang und kalt waren und sie niemanden hatte, an dem sie sich wärmen konnte. Sie würde am Donnerstag für ein verlängertes Wochenende zu ihrem Vater fahren und einmal mehr über alte Zeiten reden, dabei Tee oder Bier trinken, dem Knisterndes brennenden Holzes im Kamin lauschen und die wenigen erholsamen Tage einfach nur genießen. Sie hoffte inständig, dass nichts dazwischenkam, aber die vergangenen Wochen waren relativ ruhig gewesen, sie hatte sich viel im Büro aufgehalten, um den Aktenstapel, der sich seit dem Sommer auf ihrem Schreibtisch aufgetürmt hatte, allmählich abzuarbeiten, und wenn sie sich ranhielt, würde sie bis Ende November auch mit der letzten Akte fertig sein. Vorausgesetzt, man ließ sie in Ruhe, auch wenn sie diese Arbeit eigentlich hasste. Das Einzige, was sie im Moment aus dem Büro trieb, war der Mord an einem bislang unbescholtenen Kaufmann aus Münster, der in einem Stundenhotel in der Münchener Straße vor einer Woche erstochen worden war. Hellmer und Kullmer hatten bisher die Hauptarbeit übernommen, sie selbst war nur einmal am Tatort gewesen, um mit dem Inhaber des Hotels zu sprechen, der sich jedoch verschlossen wie eine Auster zeigte.
»Hi, Julia«, sagte Hellmer, den sie nicht hatte kommen hören, weil sie zu sehr in Gedanken versunken war. »Wie geht’s?«
»Gut, warum?«
»Nur so. Es interessiert mich eben, wie’s meiner Lieblingskollegin geht.«
»Du hast wohl heute besonders gute Laune. Wie kommt’s?«, fragte sie leicht schnippisch, denn ihre Stimmung war seit dem Gespräch mit Berger an einem Tiefpunkt angelangt, was nicht an Berger lag, sondern daran, dass sie sich hilflos fühlte, wenn sie an ihren Termin dachte und an morgen.
»Einfach so«, entgegnete er mit einem Unterton, der Julia Durant aufhorchen ließ, während er sich auf die Schreibtischkante setzte, wobei er tat, als hätte er das Schnippische in ihrer Frage nicht wahrgenommen.
Sie lehnte sich zurück und drehte den Kuli zwischen den Fingern. »Einfach so? Komm, spuck’s aus, was ist los?«
»Du bist die Erste, die’s erfährt«, antwortete er leise. »Nadine ist wieder schwanger.«
»Gratuliere. Seit wann wisst ihr’s?«
»Seit gestern. Sie ist schon im dritten Monat, obwohl sie vor vier Wochen noch ihre Tage hatte. Aber der Arzt hat gemeint, das sei nicht ungewöhnlich, das würde häufiger vorkommen. Sie ist erst stutzig geworden, als ihr morgens immer übel war und sie Heißhunger auf alles Mögliche bekam. Ich freu mich jedenfalls drauf. Aber behalt’s bitte vorläufig für dich.«
»Was es wird, wisst ihr noch nicht, oder?«
»Nee, interessiert uns auch gar nicht. Wir lassen uns einfach überraschen, genau wie bei Stephanie. So, ich muss rüber in meine Bude, ein paar Telefonate führen. Viel Glück bei Gericht.«
»Haha! Und jetzt verschwinde, ich hab zu tun.« Sie deutete auf den Aktenberg und zwang sich zu einem Lächeln. Als Hellmer ihr damals von Nadines erster Schwangerschaft erzählte, hatte es ihr einen Stich versetzt, weil sie wusste, niemals dieses Glück verspüren zu dürfen. Mittlerweile hatte sie sich damit abgefunden, keine Kinder zu bekommen. Sie wollte auch gar keine mehr, denn dazu hätte ein Mann gehört, aber Männer spielten nur noch eine untergeordnete Rolle in ihrem Leben. Sie war allein und würde es auch bleiben. Und irgendwie hatte sie sich mit dieser Situation arrangiert.
Um Viertel vor zwölf verließ sie das Präsidium, holte sich an einem Imbiss einen Hamburger und eine Portion Pommes mit Ketchup, bevor sie sich auf die Fahrt zum Gericht machte. Ihr graute vor diesem Termin, besonders vor dem Staatsanwalt, zu dem sie ein mehr als gespaltenes Verhältnis hatte. Insgeheim hatte sie sich für den Prozess eine junge Staatsanwältin gewünscht,Anfang dreißig, recht hübsch, um nicht zu sagen eine Schönheit, nicht sehr groß, dafür enorm durchsetzungsfähig und mit einem extrem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Wer immer sie sah und nicht kannte, hätte niemals vermutet, eine Staatsanwältin vor sich zu haben, und vor allem Männer drehten jedesmal die Köpfe nach ihr um, wenn sie an ihnen vorbeiging. Sie vorverurteilte niemanden, sondern hörte des Öfteren auch, was für Staatsanwälte eher ungewöhnlich war, auf ihre innere Stimme. Sie waren schon ein paarmal essen gewesen und irgendwie war eine kleine, aber feine Freundschaft zwischen ihnen entstanden, auch wenn sie sich höchstens einmal im Monat sahen, und auch
Weitere Kostenlose Bücher