Teuflischer Sog
während sie ihre Fahrt nach Süden fortsetzte. Er konnte die Vibration ihrer Schrauben im Wasser spüren und hörte das ständige Rauschen ihres dekorativen Schaufelrads am Heck.
Juan tauchte dort auf, wo der Rumpf in das Deck überging und er von oben halbwegs geschützt war. Das Schiff machte etwa vier Knoten Fahrt, und sein Sog schleppte ihn fast mit dem gleichen Tempo mit. Er rammte seine Pistole in ihr Holster, um die Hände frei zu haben.
Wie bei einem traditionellen Heckraddampfer ragte eine Treibstange über die Schiffsseite hinaus, ähnlich den Kolbenstangen, die die großen Räder einer Dampflokomotive antreiben. An der Belle hatte sie jedoch keinerlei Funktion, sondern war nur ein zusätzliches Element, das sie authentischer aussehen ließ.
Juan streckte einen Arm aus dem Wasser und packte einen Stützbügel. Er hatte, sobald sich sein Oberkörper über der Wasseroberfläche befand, jedoch keine Möglichkeit, weiter nach oben zu klettern. Dieser Teil des Schiffes war eine fast senkrechte glatte Wand. Die Treibstange ließ ihn wieder ins Wasser absinken – wie einen Teebeutel, um ihn gleich darauf erneut herauszuziehen. Dieses ständige Auf und Ab machte ihn fast schwindelig. Weitere Schüsse hallten aus dem Decksaufbau durch die Nacht. Die Zeit wurde allmählich knapp, und er wusste, was er zu tun hatte.
Hand über Hand arbeitete er sich weiter nach achtern, bis das Schaufelrad mit seinem Durchmesser von zehn Metern vor ihm aufragte und das Wasser dicht an seiner Hüfte aufwühlte. Im Gegensatz zu den historischen Schiffen, deren Schaufelräder aus Holzpaddeln in einem Stahlrahmen bestanden, stellte das Schaufelrad der Belle eine reine Stahlkonstruktion dar.
Juan beobachtete es im matten Licht der Lampen auf dem erhöhten Heck des Schiffes, berechnete seine Rotation und den Rhythmus der Treibstange so lange, bis er sicher sein konnte, dass seine Idee durchführbar war.
Er streckte sich nach einem der Paddel, umfasste die Kante mit beiden Händen und schaffte es schließlich, die Finger in die richtige Position zu bringen, bevor es ihn unter Wasser zog. Der auf seinen Körper ausgeübte Zug drohte seine Arme aus den Gelenken zu reißen. Aber nichts in der Welt hätte ihn dazu bewegen können loszulassen. Genauso schnell, wie er unter Wasser gezerrt wurde, tauchte er triefend nass wieder auf. Er wandte dem Schiff den Rücken zu, damit drehte er sich aber in den wenigen Sekunden, die er zur Verfügung hatte, so dass er, als er den Scheitelpunkt des Rades erreichte, auf die Fenster der Präsidentensuite knapp unter dem Oberdecksalon blickte.
Der Schwung schleuderte ihn mit genügend Wucht gegen die Glasscheibe, um sie zu zertrümmern. Er landete auf einem großen Doppelbett und federte hoch auf die Füße. Eine Frau, die sich in ein Badetuch gehüllt hatte, kam gerade aus dem Badezimmer. Sie stieß einen Schrei aus, als sie Juan dort stehen sah, der wie ein Hund Glassplitter und Wasser abschüttelte.
In Augenblicken wie diesen war Juan eigentlich immer gut für eine flapsige Bemerkung, aber in diesem Fall war er einfach zu benommen von dem Aufprall und dem wilden Ritt auf dem Schaufelrad. Er schenkte der Frau sein charmantestes Lächeln und verließ eilig die Kabine.
Nur zehn Minuten waren verstrichen, seit er in den Fluss gesprungen war. Zehn Minuten also, in denen Max allein gegen eine Übermacht von drei Gegnern hatte durchhalten müssen. Juan angelte sich die Pistole aus dem Holster, zog den Schlitten zurück, um das Wasser herausrinnen zu lassen, und blies kräftig in die Kammer. Das war das Beste, was er tun konnte, denn die Glock war eine robuste Waffe, die ihn noch nie zuvor im Stich gelassen hatte.
Der Korridor vor der Kabine der Frau wirkte leer und verlassen. Orangefarbene Flackerbirnen, die die Illusion von Kerzen erzeugen sollten, warfen bizarre Schatten. Sie verliehen dem halbdunklen Flur die Aura eines Geisterhauses. Juans Schuhe quietschten bei jedem Schritt, und er hinterließ eine Spur aus stinkendem Flusswasser. Eine Tür öffnete sich plötzlich einen Spaltbreit, und ein Auge lugte heraus.
»Schließen Sie die Tür, und bleiben Sie in der Kabine«, befahl Juan. Das ließ sich die Person nicht zweimal sagen. Selbst wenn er nicht bewaffnet gewesen wäre, verlangte Juans Stimme absoluten Gehorsam.
Die Schreie waren verstummt, was bei einer solchen Geiselnahme bedeutete, dass die Argentinier mittlerweile alles unter Kontrolle hatten und die Geiseln keinen Widerstand mehr
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