The American Monstershow in Germany
verrottet. Ein Teil des Fleisches hatten vermutlich auch Ratten gefressen. Dennoch erkannte der anatomisch geschulte Blick des Malers sofort, dass dies das Gerippe einer Frau war. Es schien, dass, sobald ein leichter Windzug sich regte, das Gerippe aus dem Fenster zur gegenüberliegenden Wohnung winke, zur Wohnung des Malers. Manchmal gab es auch ein leise klappendes Geräusch von sich, wenn die Knochen aufeinander schlugen.
‚ Es friert‘, ging dem Maler ein absurder Gedanke durch den Kopf.
Dies alles war für den Maler wie ein Wirklichkeit gewordener Alptraum. Aber es war nicht das Furchtbarste. Der Maler verließ den unheimlichen Ort und kehrte in sein Atelier zurück. Als er auf die Leinwand sah, raste die Zeit mit unglaublicher Geschwindigkeit an dem Künstler vorbei Er wurde grau, das Alter grub sich mit harter Hand in seine Gesichtszüge ein. Der Wahnsinn streckte seine langen Krallenfinger nach dem Verstand des Malers aus. Ein einziger, langgezogener Schrei entrang sich seiner Kehle. Es war der Schrei des getroffenen Tigers im undurchdringlichen Dschungel Indiens. Ein Schrei, der in wenigen Sekunden alles Leben aus dem mächtigen Organismus hinausschleudert, der gleich darauf aufhört, zu sein.
Dort auf der Leinwand war nicht länger die Venus am Fenster zu sehen, sondern jenes von einem Dachbalken herabhängende Gerippe. Aus blinden Augenhöhlen glotzte es den Maler an, und der zahnlose Mund schien hämisch zu grinsen.
Keiner weiß, was danach passiert ist. Der Maler erwachte Tage später in einem frisch bezogenen, gestärkt duftenden Krankenhausbett. Das Haus gegenüber dem seinen war in Flammen aufgegangen. Menschen waren nicht zu Schaden gekommen, denn es stand schon seit Jahren völlig leer.
Der alte Mann sah seine fünf jungen Freunde mit einem traurigen Lächeln an. „Ihr seht, es gibt viele Wege, alt zu werden“, sagte er, und es klang unendlich müde.
Heike atmete hörbar auf. „Wie gut“, sagte sie mit dem vorsichtigen Anflug eines Lächelns, das noch nicht weiß, ob es sich zeigen darf, „dass es nur ein Märchen ist.“
Der alte Mann nickte weise zweimal mit dem Kopf und sagte einfach nur: „Ja!“ Dann entblößte er die Reste seiner Zähne zu einem breiten Grinsen.
Gerald dachte für einen Moment an das grinsende Gerippe auf dem Dachboden. Er sah den alten Mann an, und eine Gänsehaut lief über seinen Rücken zum Nacken hinauf. Dann griff der alte Mann nach seiner Flasche Bier und nahm einen großen Schluck. Schaum blieb in seinem Bart zurück. Damit war alles Grausige plötzlich weggewischt. Was blieb, war ein alter Säufer, der mit guten Geschichten Bier und Schnaps für den täglichen Bedarf verdiente. Ein Märchenerzähler aus dem Orient, der sich hierher verlaufen hatte und nun Geschichten nach europäischer Fasson erzählte.
„ Wisst ihr übrigens“, setzte der alte Mann gerade zu einer neuen Geschichte an, „was das Eidolon ist?“
Keiner wusste es. Aber, wie schon gesagt, das ist eine andere Geschichte.
In letzter Sekunde
Andreas mochte das Haus nicht. Es sah aus wie eine alte Erdkröte, die träge und fett auf dem Boden hockt und nach Fliegen für das Mittagsmahl Ausschau hält. Das
Haus war das zweistöckige Bauernhaus der Familie Becker. Es stand seit zwanzig Jahren leer. Die Beckers hatten Felsengrund damals in Richtung Westen verlassen und waren mit der neuen Zeit nicht zurückgekehrt, um es wieder in Besitz zu nehmen. Das Haus war alt. An einigen Stellen bröckelten die Außenmauern. Der Verputz, wo er noch vorhanden war, hatte eine schmutzig-graue Farbe. Dieses Haus blickte die vier jungen Leute, die vor seiner Tür standen, mit unverhohlener Boshaftigkeit aus den Schießschartenfenstern an.
Der Weg, der von der Straße zum Eingang führte, durch eine Tür, die kaum mehr war als ein Loch in einer Bretterwand, vor dem ein weiteres Brett hin und her schwang, dieser Weg war von vielen Regengüssen ausgewaschen, die Pflastersteine lagen lose. Und es war ein Wunder, wenn man sich nicht den Knöchel verstauchte, bis man vor die Eingangstür gelangte.
Die Scheiben in der Eingangstür waren beinahe schwarz von Staub. So konnte man nicht erkennen, ob und was auf der anderen Seite dieser Tür lauerte.
Nein, Andreas mochte dieses Haus nicht, und er verfluchte im stillen Dirk, der die verrückte Idee ausgebrütet hatte, hier nach Schätzen zu suchen, die man den Holländern anbieten konnte.
Die Holländer waren mit der Freiheit in den Osten gekommen. Sie
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