The Bone Season - Die Träumerin (German Edition)
nicht einmal bis zur Schulter. »Die Entscheidung liegt bei dir, vergiss das nicht. Doch ich würde dir raten, dabei auch an jene zu denken, die dir das hier gegeben haben.« Mit einer lockeren Drehung des Handgelenks warf er mir den schweren Rucksack zu. »Würden sie wollen, dass du wegen nichts und wieder nichts stirbst, oder würden sie es lieber sehen, wenn du kämpfst?«
*
Dicke Hagelkörner knallten auf das Dach des Turms. Meine Lippen und Finger waren taub vor Kälte, obwohl ich die Hände über die Petroleumlampe hielt.
Ich musste über das Angebot des Wächters nachdenken. Natürlich wollte ich nicht mit ihm zusammenarbeiten, aber ich musste lernen, wie man hier überlebte – zumindest so lange, bis ich einen Weg fand, um nach London zurückzugelangen. Zurück zu Nick und Jax. Zurück zu Versteckspielen mit den Wachen, zu Denkdelikten. Endlich wieder Didion Waite irgendwelche Geister abnehmen und Hector und seine Jungs ärgern. Das wollte ich. Mehr über meine Gabe zu lernen, könnte mir dabei helfen, von hier wegzukommen.
Jaxon hatte immer gesagt, außer einem besonders scharfen sechsten Sinn gäbe es noch mehr, was einen Traumwandler ausmache. In mir schlummerte das Potenzial, mich völlig frei zu bewegen, selbst in fremden Traumlandschaften. Das hatte ich bewiesen, als ich die beiden Wachen tötete. Der Wächter konnte mir vielleicht noch mehr zeigen. Dennoch, ich wollte ihn nicht als Lehrer haben. Wir beide waren von Natur aus Feinde, es hatte keinen Sinn, sich da etwas vorzumachen. Und trotzdem hatte er allein durch Beobachtung so viel über mich herausgefunden: meine Haltung, meine innere Anspannung, meine Wachsamkeit. Jaxon hatte mir auch immer wieder gesagt, ich müsse lockerer werden und mich treiben lassen. Aber das hieß noch lange nicht, dass ich dem Mann trauen konnte, der mich in dieses kalte, dunkle Zimmer sperrte.
Im trüben Licht der Lampe packte ich den Rucksack aus. Fast alle meine Sachen waren noch da: die Spritzen, die Ausrüstung, sogar meine Waffe. Natürlich ohne Munition, und die Spritzen waren alle leer. Mein Telefon war ebenfalls konfisziert worden. Nur ein weiterer Gegenstand fehlte: Über die Vorzüge der Widernatürlichkeit.
Ein kalter Schauer lief durch all meine Muskeln. Wenn er es Nashira gegeben hatte, hätte sie mich inzwischen zur Befragung vorgeladen. Sicherlich war den Rephaim das Flugblatt schon einmal untergekommen, aber meine Ausgabe konnten sie nicht kennen. Ich legte mich aufs Bett und inspizierte meine Blutergüsse, dann zog ich die Decken bis unter mein Kinn. Kaputte Sprungfedern bohrten sich in meine Schultern. Innerhalb von drei Minuten hatte ich drei Schläge gegen den Kopf abbekommen, jetzt war ich müde. Durch die Gitterstäbe spähte ich in die Welt hinaus. Würde mir doch von dort draußen eine Antwort zufliegen … aber natürlich kam nichts. Da war nur die unausweichliche Dämmerung.
Als die Sonne unterging, schlug die Nachtglocke. Es erschien mir schon normal, fast wie ein Wecker. Während ich mich anzog, traf ich eine heikle Entscheidung. Ich würde versuchen, wieder mit ihm zu trainieren, falls ich das schlucken konnte. Was die Konversationsstunde anging, damit kam ich klar. Immerhin konnte ich die Stunde mit Lügen füllen.
Der Wächter erwartete mich an der Tür. Er musterte mich eingehend.
»Bist du zu einem Entschluss gelangt?«
Ich blieb auf Abstand. »Ja. Ich werde mit dir trainieren. Wenn wir uns darauf einigen können, dass du nicht mein Meister bist.«
»Du verhältst dich klüger als erwartet.« Er reichte mir eine schwarze Jacke mit rosa Bändern an den Ärmeln. »Zieh das an. Du wirst sie bei deiner nächsten Prüfung brauchen.«
Ich streifte sie über und schloss den angenähten Gürtel – warm und dick gefüttert. Der Wächter streckte mir die geöffnete Hand entgegen, in der drei Tabletten lagen. Ich nahm sie nicht. »Wofür ist die grüne?«
»Darum musst du dich nicht kümmern.«
»Ich will wissen, was sie bewirkt. Niemand sonst kriegt sie.«
»Das liegt daran, dass du dich von ihnen unterscheidest.« Noch immer streckte er die Hand aus. »Ich weiß, dass du deine Tabletten nicht genommen hast. Und ich habe keinerlei Hemmungen, sie dir mit Gewalt einzuflößen.«
»Das will ich sehen.«
Durchdringend starrte er mich an. Meine Haut kribbelte. »Ich möchte nicht, dass es so weit kommt«, sagte er schließlich.
Diesen Kampf würde ich verlieren. Nennt es Instinkt einer Kriminellen. Das war wie mit Didion und Anne
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