The Bone Season - Die Träumerin (German Edition)
deiner Meinung nach das Epizentrum eines Kältepunkts ermitteln?«
»Die meisten Seher könnten den Geist sehen«, antwortete ich. »Sie verfügen schließlich über die Zweitsicht.«
»Du jedoch nicht.«
»Nein.«
»Auch ohne die Zweitsicht gibt es Möglichkeiten. Hast du schon einmal etwas von Rhabdomantie gehört?«
»Sie soll nutzlos sein.« Das hatte Jax mir mehr als einmal erklärt. »Die Wünschelrutengeher behaupten, sie könnten von jedem beliebigen Ort aus zum Ausgangspunkt zurückfinden. Und dass sie verlorene Numa aufspüren können, weil Geister ihnen die Richtung anzeigen. Funktioniert aber nicht.«
»Das mag wahr sein, aber sie ist nicht ›nutzlos‹. Keine Form der Hellseherei ist nutzlos.«
Mir stieg das Blut in die Wangen. Eigentlich glaubte ich auch nicht, dass Rhabdomanten nutzlos waren, aber Jax hatte mir das immer gesagt. Und man konnte nicht für Jaxon Hall arbeiten, wenn man in solchen Dingen nicht seiner Meinung war.
»Und worin liegt dann ihr Nutzen?«, fragte ich. Der Wächter sah mich aufmerksam an. »Du sollst mich doch ausbilden. Also, bring mir etwas bei.«
»Nun gut, wenn du etwas lernen willst.« Er ging wieder weiter. »Die meisten Rhabdomanten glauben, wenn sie ihre Numa fallen lassen, zeigen sie Richtung Heimat, zu dem vergrabenen Schatz – eben auf jeweils das, was sie gerade finden wollen. Irgendwann macht es sie verrückt. Denn ihre Numa zeigen nicht auf Gold, sondern immer auf das Epizentrum des nächsten Kältepunkts. Manchmal wandern sie kilometerweit, ohne jemals auf das zu stoßen, was sie suchen. Und trotzdem finden sie etwas: eine verborgene Tür. Sie wissen allerdings nicht, wie sie sich öffnen lässt.«
Er blieb stehen. Inzwischen zitterte ich in der dünnen, kalten Luft. Es wurde immer anstrengender, richtig durchzuatmen. »Die Lebenden können es nur schwer an einem Kältepunkt aushalten«, erklärte der Wächter. »Hier.«
Er reichte mir eine silberne Flasche mit Drehverschluss. Misstrauisch starrte ich das Ding an.
»Es ist nur Wasser, Paige.«
Ich trank. Mein Durst war zu groß, um abzulehnen. Anschließend gab ich die Flasche zurück, und er verstaute sie. Das Wasser machte meinen Kopf wieder klar.
Wir standen neben einer Stelle, an der die Erde komplett gefroren war, wie im tiefsten Winter. Ich biss meine klappernden Zähne fest zusammen. Der Geist, der für den Kältepunkt verantwortlich war, schwebte ganz in der Nähe. Als er sich nicht näherte, ging der Wächter neben der Eisfläche in die Hocke, holte ein Messer hervor und drückte die Klinge gegen seinen Arm. Neugierig trat ich einen Schritt vor. »Was machst du da?«
»Die Tür öffnen.«
Dann schnitt er sich ins Handgelenk. Drei Tropfen Ektoplasma fielen auf das Eis. In der Mitte des Kältepunkts bildeten sich Risse, und die Luft wurde weiß. Nicht greifbare Gestalten umringten mich. Stimmen. Träumerin, Träumerin . Ich hielt mir die Ohren zu, konnte sie aber trotzdem hören. Geh nicht weiter, Träumerin. Kehre um. Als ich hochblickte, war es wieder dunkel.
»Paige?«
»Was ist passiert?« Mein Kopf war leicht und schmerzte.
»Ich habe den Kältepunkt geöffnet.«
»Mit deinem Blut.«
»Ganz genau.«
Sein Handgelenk war bereits verheilt, und seine Augen leuchteten rötlich. Meine Aura wirkte immer noch auf seine Wunden ein. »So kann man also einen Kältepunkt ›öffnen‹.«
»Du nicht, ich schon.«
»Weil Kältepunkte in den Æther führen.« Ich überlegte kurz. »Kann man mit ihrer Hilfe in die Unterwelt gelangen?«
»Ja, so sind wir hierhergekommen. Stell es dir folgendermaßen vor: Zwischen dem Æther und eurer Welt, also der Welt des Lebens, befinden sich zwei Schleier. Und zwischen diesen Schleiern liegt die Unterwelt, ein Zwischenstadium zwischen Leben und Tod. Wenn Rhabdomanten einen Kältepunkt finden, entdecken sie damit eine Möglichkeit, sich zwischen den Schleiern zu bewegen. Und so meine Heimat zu betreten, das Reich der Rephaim.«
»Können Menschen dorthin gelangen?«
»Versuch es.«
Verunsichert sah ich ihn an. Als er mit dem Kinn auf den Kältepunkt deutete, trat ich auf die Eisfläche. Nichts geschah.
»Jenseits des Schleiers kann keine stoffliche Materie bestehen«, erklärte der Wächter. »Dein Körper kann das Tor nicht durchschreiten.«
»Und was ist mit den Rhabdomanten?«
»Auch sie bestehen aus Fleisch.«
»Warum hast du ihn dann jetzt geöffnet?«
Inzwischen war die Sonne vollständig verschwunden. »Weil es der richtige Zeitpunkt war«,
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