The Bone Season - Die Träumerin (German Edition)
Die rechneten doch damit, dass ich so dachte und mich auf die sichere Seite bringen wollte. Fast wäre ich wieder Richtung Norden gegangen, aber reine Sturheit trieb mich weiter voran. Widerwillig stellte ich mir vor, wie der Wächter, David und der Oberaufseher am Feuer saßen und einen Toast ausbrachten, wenn ich auf eine Mine trat. »Auf die Traumwandlerin, meine Herren«, würde der Oberaufseher sagen. »Die größte Idiotin, die wir je nach Sheol I geholt haben.« Und was würden sie auf meinen Grabstein schreiben? Würde dort PAIGE MAHONEY stehen oder nur XX -59–40? Natürlich nur für den Fall, dass überhaupt genug von mir übrig blieb, um etwas zu beerdigen.
Ich blieb stehen und lehnte mich gegen einen Baum. Das war doch Wahnsinn. Warum stellte ich mir all diese Dinge vor? Der Wächter konnte den Oberaufseher nicht ausstehen. Ich presste die Lider zusammen und rief mir eine andere Gruppe ins Bewusstsein: Jaxon, Nick und Eliza. Sie waren in der Zitadelle und warteten auf mich, suchten nach mir. Wenn ich es bloß aus diesem Wald rausschaffte, konnte ich mich zu ihnen durchschlagen.
Es dauerte einen Moment, bis ich die Augen wieder aufschlug. Und sah, was vor mir auf dem Boden lag.
Knochen. Menschliche Knochen. Ein Skelett in einer zerfetzten weißen Tunika. Seine Beine endeten an den Knien. Ich wich so hastig zurück, dass ich fast über meine eigenen Füße gestolpert wäre. Bei meinem nächsten Schritt knirschte es. Ein Schädel.
Neben den Überresten lag eine Tasche. Die Finger waren immer noch um den Riemen geschlungen. Als ich ihn lösen wollte, gaben die Knochen ein trockenes Knacken von sich.
Auf den letzten Fleischfetzen krochen Fliegen herum: riesige, scharzhaarige Fliegen, aufgedunsen vom toten Gewebe. Sie flogen auf, als ich sie ihrem toten Besitzer entriss. Der Strahl meiner Lampe erfasste ihren Inhalt: ein Stück modriges Brot, eine leere Flasche.
Mir brach der kalte Schweiß aus. Ich leuchtete mit der Lampe nach rechts, und nur wenige Schritt entfernt tat sich mitten im Laub ein Krater auf, den der Regen schon halb gefüllt hatte. Knochensplitter und Bruchstücke der Minenverschalung waren überall verstreut.
Es gab also tatsächlich ein Minenfeld.
Ich lehnte mich schwer gegen den Stamm einer Eiche. Unmöglich, im Dunkeln ein Minenfeld zu überqueren. Vorsichtig löste ich mich von dem Baum und stieg über das Skelett hinweg . Alles in Ordnung, Paige . Mit zitternden Knien wandte ich mich nach Norden und versuchte, den gleichen Weg zurückzugehen. Weit hatte ich mich noch nicht von der Lichtung entfernt. Ich konnte es schaffen. Als ich einige Schritt zwischen mich und das Skelett gebracht hatte, stolperte ich über eine Wurzel und fiel der Länge nach hin. Völlig verkrampft und mit klopfendem Herzen blieb ich liegen, aber die erwartete Detonation kam nicht.
Schließlich stützte ich mich auf die Ellbogen, wühlte in meiner Jackentasche, holte das Zippo hervor und klappte es mit dem Daumen auf. Eine klare Flamme leuchtete auf. Ein Weg in den Æther. Zwar war ich kein Augur – Feuer war kein Freund von mir – , aber für eine Mini-Séance konnte ich sie benutzen. »Ich brauche einen Führer«, flüsterte ich. »Falls dort draußen jemand ist, komm zu der Flamme.«
Lange Zeit geschah nichts. Die Flamme flackerte unruhig. Dann erwachte mein sechster Sinn zum Leben, und zwischen den Bäumen erschien ein junger Geist. Ich stemmte mich auf die Füße. »Ich muss zurück zu meinem Lager«, erklärte ich und streckte ihm die Flamme entgegen. »Wirst du mich führen?«
Ich konnte nicht hören, was er sagte, doch er bewegte sich in die Richtung, aus der ich gekommen war. Mein Gespür verriet mir, dass es der Geist der toten Weißjacke war, und ich fing an zu rennen. Der Geist hatte keinerlei Grund, mich in die Irre zu führen.
Bald entdeckte ich den Salzkreis. Der Regen erstickte die Feuerzeugflamme, trotzdem blieb der Geist in meiner Nähe. Es dauerte ein paar Minuten, bis ich mich wieder unter Kontrolle hatte. So bitter es auch war, mir blieb nichts anderes übrig, als Richtung Norden zu gehen. Ich prüfte, ob meine Sachen noch gut verstaut waren, dann tauchte ich wieder in das Dickicht ein – die Taschenlampe in der einen, das Zippo in der anderen Hand, der Geist dicht hinter mir.
Nach ungefähr einer halben Stunde, in der der Geist sich wie ein Seil um meine Schulter geschlungen hatte, blieb ich stehen und vergewisserte mich, dass ich den Gürtel des Orion noch immer im Rücken hatte.
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