The Bone Season - Die Träumerin (German Edition)
Hand verloren hatte, hatte ich fast geglaubt, sie würden gar nicht existieren. Bis jetzt.
Ich musste meine gesamte Selbstbeherrschung aufbieten, um nicht zusammenzubrechen. Meine Hände zitterten, meine Lippen bebten. Ich bekam kaum noch Luft, konnte nicht denken. Ob er wohl meinen Herzschlag hörte? Oder meine Angst roch? Geiferte er schon in Vorfreude auf mein Fleisch, oder war ich noch zu weit weg, um von ihm bemerkt zu werden?
Ich schob einen neuen Pfeil in die Waffe. Der Summer schnüffelte an der Stelle herum, wo mein erster Schuss gelandet war. Ich schloss die Augen und öffnete mich dem Æther.
Irgendetwas stimmte nicht. Ganz und gar nicht. Sämtliche Geister in der Umgebung waren verschwunden, als hätten sie Angst, aber warum sollten Geister etwas fürchten, was der stofflichen Welt angehörte? Schließlich konnten sie nicht ein zweites Mal sterben. Aus welchem Grund auch immer, es gab nichts, was ich zum Schutz an mich ziehen konnte.
Mir wurde bewusst, dass ich den Summer nicht mehr hörte. Meine Hände waren schweissnass, sodass es mir schwerfiel, die Waffe festzuhalten. Jeden Moment konnte ich tot sein. Totes Fleisch.
Das Ganze musste eine Falle gewesen sein. Nashira hatte nie gewollt, dass ich mir die rote Tunika verdiente. Sie wollte nur, dass ich starb.
Nicht heute , dachte ich. Nicht heute, Nashira .
Ich stürmte hinter dem Baum hervor. Meine Stiefel klopften ebenso laut auf den Boden wie mein Herz gegen meine Rippen. Wo war er? Hatte er mich schon entdeckt?
Irgendetwas traf mich zwischen den Schulterblättern. Für einen Augenblick flog ich schwerelos durch die Schwärze. Dann schlug ich auf. Mein Handgelenk knickte um und brach. Zwar versuchte ich noch, den Schrei zu unterdrücken, doch es war zu spät.
Die Waffe war weg. Keine Chance, sie jetzt noch wiederzufinden. Ich konnte das Ding hören – es war ganz in der Nähe, es war über mir. Mit der gesunden Hand griff ich in meinen Stiefel und zog das Jagdmesser hervor.
An meinen Geist verschwendete ich keinen Gedanken, sondern stach blind auf weiches Gewebe ein. Etwas Nasses lief über mein Handgelenk. Ein Summen. Wieder stach ich zu, einmal, zweimal. Summ, summ. Kleine, runde Klumpen trafen mein Gesicht, sodass ich blinzeln musste. Finger gruben sich in meinen Hals, heißer, stinkender Atem streifte meine Wange. Zustechen, zustechen. Summen. Dicht neben meinem Ohr knallten knirschend Zähne aufeinander. Mein Messer bohrte sich in Fleisch, und ich zog es mit aller Kraft nach unten. Die Klinge durchtrennte Muskeln und Sehnen.
Dann war es weg. Ich war frei. Meine Hände waren mit einer klebrigen, übel riechenden Flüssigkeit verschmiert. Mir stieg die Galle in die Kehle, sie brannte in Mund und Nase.
Die Taschenlampe lag ungefähr zehn Schritt entfernt. Ich presste das gebrochene Handgelenk an die Brust und kroch darauf zu. Das war nicht mein erster Bruch an dieser Stelle, und es pochte wie die Hölle. Schweißgebadet zog ich mich mit einem Arm voran, das Messer zwischen die Zähne geklemmt. Der Leichengeruch ließ mich würgen, bis sich meine Kehle schmerzhaft zusammenzog.
Ich packte die Taschenlampe und schwenkte sie herum. Zwischen den Bäumen bewegten sich dunkle Schatten. Mehr Schritte. Mehr Summer. Nein .
Mein Schädel pochte und vor meinen Augen verschwamm alles. Ich will nicht sterben. Dass ich diesen Schmetterling unter meine Kontrolle gebracht hatte, hatte mich wesentlich stärker geschwächt, als ich angenommen hatte. Lauf . Hastig griff ich in meine Jackentasche und zog die Spritze hervor. Mein letztes Mittel. Die Leuchtpistole war keine Alternative. Die würde ich nicht abfeuern. Dieses Spiel würde ich nicht verlieren.
ScionAid Adrenalin in einer automatischen Spritze. Viel stärker als der gepanschte Drogencocktail, mit dem Jax mich immer wachgehalten hatte. Ich bohrte die Nadel durch den Stoff der Hose direkt in meinen Oberschenkel.
Stechender Schmerz. Mir entfuhr ein Fluch, aber ich zog die Spritze nicht zurück. Ruckartig schoss das Adrenalin in die Muskeln. ScionAid Adrenalin war dazu gedacht, den gesamten Körper in Alarmbereitschaft zu versetzen. Es sorgte nicht nur für normale Funktionsfähigkeit, sondern löschte auch jegliche Schmerzen aus und machte einen stärker. Wachen bekamen das Zeug permanent verabreicht. Meine Muskeln wurden weich und geschmeidig. Meine Beine wurden kräftiger. Ich sprang auf und rannte los. Das Adrenalin hatte zwar keinerlei Einfluss auf meinen sechsten Sinn, aber es fiel mir
Weitere Kostenlose Bücher