The Bone Season - Die Träumerin (German Edition)
Traumlandschaften. Ich war ganz allein. Als ich die Lider wieder aufschlug, blickte ich zum Himmel hinauf. Zum Glück war ich noch rechtzeitig aufgewacht, denn die Sterne wurden gerade von einer dicken Wolke verschluckt, und ohne die Sonne waren sie mein einziges Navigationsmittel. Da Sirius nirgendwo zu sehen war, suchte ich nach dem Gürtel des Orion. Durch Nicks leidenschaftliche Astronomievorträge hatte ich gelernt, wie man von der Position des Gürtels aus ungefähr ableiten konnte, wo Norden war. Außerdem wusste ich, wo er in Relation zu Sheol I liegen musste. Nachdem ich die drei Sterne gefunden hatte, drehte ich mich langsam in die entsprechende Richtung. Vor mir erstreckte sich ein Wald, so schwarz wie dicht und undurchdringlich.
Mein Herz raste. Bisher hatte ich mich nie vor der Dunkelheit gefürchtet, aber sie würde mich zwingen, mich auf meinen sechsten Sinn zu verlassen, um eventuelle Bewegungen zu erkennen. Was wahrscheinlich der Grund für das Ganze hier war – mich zu prüfen.
Ich blickte über die Schulter zurück. Auf der anderen Seite der Lichtung war es genauso finster. Dieser Weg würde mich nach Süden führen, fort von der Kolonie.
Geh nicht Richtung Süden.
Mir war klar, was er vorhatte. Er verließ sich darauf, dass ich ein braves Menschlein sein und gehorchen würde. Warum sollte ich nach Norden gehen, wenn mich das zurück in die Sklaverei brachte – zurück zum Wächter, der mich hier überhaupt erst ausgesetzt hatte? Ich hatte es nicht nötig, ihm irgendetwas zu beweisen. Entschlossen wandte ich mich wieder dem Sternengürtel zu. Ich würde nach Süden gehen. Weg von diesem Höllenloch.
Der Wind rauschte in den Blättern und fuhr kalt über meine nasse Haut. Jetzt oder nie. Wenn ich noch länger darüber nachgrübelte, was vielleicht dort drin lauerte, würde ich nie mehr den Mut aufbringen, mich in Bewegung zu setzen. Ich biss die Zähne zusammen und marschierte in den Wald hinein.
Völlig blind tappte ich durch die Schwärze. Der Regen hatte den Boden aufgeweicht, die nasse Erde gab unter meinen Füßen nach. Lautlos aber zügig schob ich mich zwischen den mächtigen Eichen hindurch, joggte hin und wieder ein Stück und ertastete tief hängende Äste. Der schwache Strahl der Taschenlampe zeigte mir den dünnen Nebel, der zwischen den Bäumen umherwaberte, sich wie eine feine Decke über den Boden legte und meine Stiefel einhüllte. Es gab keinerlei natürliche Lichtquelle. Ich konnte nur hoffen, dass meine Lampe nicht den Geist aufgab. Auch auf ihr war das Scion-Symbol eingeritzt, wahrscheinlich eine Leihgabe aus NVD -Beständen. Was eine kleine Erleichterung war: Scion-Produkte waren für ihre Langlebigkeit bekannt.
Mir wurde bewusst, dass ich mich außerhalb der Grenzen von Sheol I befinden musste. Man nannte das hier nicht ohne Grund Niemandsland – es gehörte niemandem. Vielleicht war es Teil der Besitzungen von Scion, vielleicht auch nicht. Ich hatte keine Ahnung, wo mein Weg mich hinführen würde, aber ich wusste, dass Oxford nördlich von London lag. Die Richtung stimmte also. Meine Jacke und die Hose waren dunkel genug, um mich vor neugierigen Blicken zu verbergen, und mein sechster Sinn war geschärft wie immer. Damit konnte ich an patrouillierenden Rephs vorbeikommen. Zäune konnte ich entweder durch Klettern überwinden oder mich darunter hindurchschieben. Und falls mich jemand angriff, konnte ich meine Gabe einsetzen. Ich würde schon im Vorfeld spüren, wenn jemand kam.
Doch dann erinnerte ich mich an das, was Liss kurz nach meiner Ankunft über dieses Areal gesagt hatte: Verlassene Einöde, wir nennen sie das Niemandsland. Das allein wäre eine Ermutigung gewesen, anders als das, was danach kam, als ich sie fragte, ob schon einmal jemand versucht habe, über die südliche Route zu entkommen. »Ja«, hatte sie gesagt. Einfach nur »ja«. Was eine klare Bestätigung dafür war, wie gefährlich dieser Weg sein musste. Andere Seher hatten ihn genommen und waren gestorben. Vielleicht war ihnen ja auch eine solche Prüfung auferlegt worden. Bestand der Test einfach nur darin, der Versuchung zur Flucht zu widerstehen? Bei dem Gedanken brach mir der Schweiß aus. Landminen, Sprengfallen – das alles hatten sie hier. Ich stellte mir vor, dass Kameras in den Bäumen hingen und jede meiner Bewegungen registrierten. Nur darauf warteten, dass ich auf eine Mine trat. Meine Schritte verlangsamten sich.
Nein, Blödsinn. Ich musste weiter. Ich konnte es hier rausschaffen.
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