The Bone Season - Die Träumerin (German Edition)
einschüchtern. »Und ich würde sogar Eintritt bezahlen, wenn ich miterleben dürfte, wie du ihm erklärst, warum du mich schlagen musstest.«
»Ich habe nicht vor, dich zu schlagen, Wandlerin. Ich habe vor, dich zu zähmen .«
Wieder zischte die Peitschte in meine Richtung, doch im selben Moment stürzte sich Julian auf den Oberaufseher, sodass der Hieb ins Leere ging. Es war genau wie bei den Knochensammlern. Diesmal würden wir gewinnen.
Ein Gefühl der Wildheit packte mich. Ich ging auf den Oberaufseher los und rammte ihm mit solcher Wucht die Faust gegen das Kinn, dass sein Kopf herumgerissen wurde. Gleichzeitig trat Julian ihm die Beine weg. Der Griff um die Peitsche lockerte sich. Ich wollte sie mir schnappen, aber noch hielt er sie fest. Halb grinsend, halb fauchend fletschte er die Zähne. Julian nahm ihn in den Schwitzkasten, während ich ihm die Peitsche entwand und weit ausholte, um zuzuschlagen … da wurde mir die Peitsche entrissen. Ein Stiefel landete in meinem Magen und schleuderte mich gegen die Wand.
Suhail. Ich hätte es wissen müssen. Wo der Oberaufseher auftauchte, war sein Vorgesetzter nicht weit. Es war wie auf der Straße: Muskelprotz und Boss. »Dachte ich mir doch, dass ich dich hier finden würde, Abschaum.« Er packte mich bei den Haaren. »Machst wieder Ärger, wie?«
Ich spuckte ihn an. Er reagierte mit einem Schlag, der mich Sterne sehen ließ. »Mir ist vollkommen egal, wer dein Hüter ist, du kleine Straßenratte. Ich habe keine Angst vor dem Lustknaben. Es gibt nur einen Grund, warum ich dir nicht hier und jetzt die Kehle aufschlitze, und zwar, dass die Blutsherrscherin nach dir verlangt.«
»Sie wird es bestimmt toll finden, zu erfahren, wen du als ›Lustknaben‹ bezeichnest, Suhail«, presste ich hervor. »Soll ich es ihr verraten?«
»Sag ihr, was du willst. Das Wort eines Menschen hat weniger Bedeutung als der unkontrollierte Speichelfluss eines Hundes.«
Damit warf er mich über seine Schulter. Ich wehrte mich mit Händen und Füßen dagegen und schrie in den höchsten Tönen, wagte es aber nicht, meinen Geist einzusetzen. Der Oberaufseher schickte Julian mit einem Handkantenschlag zu Boden. Mein letzter Blick galt Julian und Liss, die nun einem Mann ausgeliefert waren, den ich nicht länger bekämpfen konnte.
Kapitel Neunzehn
D IE B LÜTE
Die Residenz der Protektoren wirkte kälter und düstererer als bei der Einführung. Ich war allein mit Suhail und würde anschließend wahrscheinlich mit Nashira ebenso allein sein. Die Muskeln in meinen Beinen begannen zu zucken.
Suhail brachte mich weder zu dem Saal, wo wir aufgeteilt worden waren, noch in die Kapelle. Stattdessen schleifte er mich durch mehrere Korridore und schubste mich dann in einen Raum mit hoher Decke und Rundbogenfenstern. Beleuchtet wurde er durch einen eisernen Kronleuchter mit unzähligen Kerzen und ein mächtiges Kaminfeuer. Das Licht der Flammen tanzte über die Decke und zeichnete unruhige Schatten auf die Stuckverzierungen.
In der Mitte des Raums stand eine lange Tafel. Und am Kopf des Tisches saß, in einem roten Polsterstuhl, Nashira Sargas. Sie trug ein schwarzes Kleid mit hohem Kragen. Die geraden Linien ließen sie wie eine Statue wirken.
»Guten Abend, 40.«
Ich schwieg. Sie wedelte mit der Hand.
»Du kannst uns nun allein lassen, Suhail.«
»Jawohl, Blutsherrscherin.« Suhail versetzte mir noch einen Schubs. »Bis zum nächsten Mal, Abschaum«, hauchte er mir ins Ohr.
Dann schlenderte er durch die Tür nach draußen. Ich blieb in dem dämmrigen Raum zurück, vor mir die Frau, die mich umbringen wollte.
»Setz dich«, befahl sie.
Zunächst wollte ich den Stuhl am anderen Ende des Tisches nehmen, das hätte gute zwölf Schritt Abstand zwischen uns gebracht, doch sie zeigte auf den, der direkt links von ihr stand – und damit am weitesten vom Kamin entfernt. Ich ging um den Tisch herum und ließ mich mit pochenden Kopfschmerzen auf das Polster sinken. Suhail hatte sich bei seinem letzten Schlag kein bisschen zurückgehalten.
Nashira ließ mich nicht aus den Augen. Sie waren grün wie Absinth. Kurz überlegte ich, von wem sie sich heute genährt hatte.
»Du blutest.«
Neben dem Besteck lag eine durch einen schweren, goldenen Ring zusammengehaltene Serviette. Ich tupfte mir damit die Lippe ab und sah Blutstropfen auf dem cremefarbenen Leinen. Um den Fleck zu verstecken, faltete ich den Stoff, bevor ich ihn auf meinem Schoß ablegte.
»Ich nehme an, du hast Angst«, verkündete
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